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Die Spätfolgen der Poliomyelitis treten schleichend auf

26.02.2001  00:00 Uhr

SELBSTHILFEGRUPPEN

Die Spätfolgen der Poliomyelitis treten schleichend auf

von Christiane Berg, Hamburg

Unerwartet aktuell: das Thema Kinderlähmung. Die tückische Krankheit gilt seit Einführung der Schluckimpfung Anfang der 60er Jahre als überwunden. Personen, die damals mit dem Polio-Virus infiziert waren, leiden jedoch heute, Jahrzehnte nach ihrer Genesung am sogenannten Post-Polio-Syndrom (PPS) und klagen über plötzliche, erneute gesundheitliche Probleme, die bis in den Rollstuhl führen können. Die Zahl der Betroffenen wird auf circa 100.000 geschätzt.

Für das Auftreten des Post-Polio-Syndroms gibt es seit den 80er Jahren eindeutige wissenschaftliche Belege. Man weiß heute, dass es entgegen herkömmlicher Auffassung bei 65 bis 85 Prozent der Patienten circa 30 Jahre nach der akuten spinalen Kinderlähmung wieder zu einem Krankheitsschub kommt. Erschöpfungszustände, Schmerzen und Muskelschwäche, aber auch respiratorische Symptome treten auf, Zeichen für eine zweite, langsam fortschreitende Degenerationsphase unter anderem durch Zugrundegehen motorischer Vorderhornzellen (Motoneuronen).

"Über viele Jahre hat es keinen Namen für diese Erkrankung gegeben, was im Wesentlichen auch bedeutete, dass sie nicht existierte", so Hans-Joachim Wöbbeking, erster Vorsitzender des Bundesverbandes Poliomyelitis e. V.- Interessensgemeinschaft von Personen mit Kinderlähmungsfolgen", Bergkamen. "Die Probleme beginnen zumeist schleichend", so der 51-Jährige, der aus eigener Erfahrung spricht. "Oftmals werden sie auf vorhergehende Ereignisse, zum Beispiel einen Unfall oder Sturz, eine Phase erzwungener Bettruhe oder eine Operation zurückgeführt."

Oft als Hypochondrie verkannt

Die mangelnde Kenntnis verzögerter neurologischer Komplikationen führe auch heute noch dazu, dass die Symptome von PPS-Betroffenen oftmals als Hypochondrie oder psychosomatische Erkrankung abgetan werden. Der Verband betrachte es daher als eine seiner vorrangigsten Aufgaben, Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben, um Odysseen durch Arztpraxen, Fehlbehandlungen und falschen Beurteilungen zum Beispiel von Versorgungsämtern entgegenzuwirken.

Anhand seines eigenen Schicksals schildert Wöbbeking die große Zäsur, die das Auftreten des PPS-Syndroms bedeuten kann. "Vor 48 Jahren erkrankte ich an Poliomyelitis. Zwar waren die Jahre danach ein ständiger Kampf. Ich musste lernen, zu laufen, trotz der Behinderung meine Möglichkeiten einzuschätzen und in späteren Jahren meinen Mann zu stehen. Doch es gelang. Ich fühlte mich gesund und glaubte, meine Kräfte seien unerschöpflich", so der Vater dreier Kinder, der im Bergbau gearbeitet hat.

Drastische Änderung der Lebensstrategie

Plötzlich sei alles ganz anders gewesen. "Ich fühlte mich erschlagen, abgespannt und litt unter Ohnmachts-ähnlichen Erschöpfungsanfällen." Selbst die kleinste Anstrengung sei zu einer unendlichen Kraftprobe geworden. "Das Auftreten neuer Symptome erfordert eine drastische Änderung der bisherigen Lebensstrategie", so Wöbbeking, der seit circa fünf Jahren im Rollstuhl sitzt und nach dem "anfänglichen Schock" positiv und zuversichtlich wirkt.

Allgemein werde angenommen, dass die Vermeidung körperlicher und seelischer Überlastung dazu beitragen kann, dem Fortschreiten von Spätfolgen nach Polio vorzubeugen. Wöbbeking warnt vor dem Kampf gegen Schwäche und Ausfälle der Muskulatur durch übermäßiges Krafttraining, zu dem Betroffene in Zeiten der Rekonvaleszenz neigen. Jetzt sei Schonung und ein moderates Bewegungstraining unter Anleitung von Spezialisten angesagt. Der Wechsel zwischen Arbeit und Erholung und kleine Pausen im Alltag seien bewusst einzuhalten, da sich die Restmuskulatur erholen und zu erstaunlichen Leistungen fähig sein kann.

Es gelte, den persönlichen Lebensrhythmus möglicherweise mit Hilfe eines Tagebuches auszuloten, um Kräfte zu mobilisieren. Wunder seien nicht zu erwarten, doch wirke eine medikamentöse Behandlung gelegentlich stützend. So könne er die vielfach beobachtete positive Beeinflussung des Krankheitsgeschehens durch die Gabe von L-Carnitin bestätigen. Vorübergehende Schmerzfreiheit bewirken die Injektion von Schmerzmitteln, Cortison und Vitamin B12, während der Acetylcholin-Esterase-Hemmer Pyridostigmin gegen Ermüdbarkeit und Schwäche hilfreich sein kann. Im allgemeinen schreite das Post-Polio-Syndrom nur langsam fort. Wöbbeking verweist auf die zumeist gute Prognose.

Die Gefahr ist nicht gebannt

Zu Spätfolgen kommt es nicht bei allen zuvor an Kinderlähmung erkrankten Menschen. Dennoch bleibt die Furcht vor einer neuerlichen Attacke. Der Bundesverband, der 1991 gegründet wurde, hilft jedem Betroffenen, gleichgültig ob bei ihm PPS diagnostiziert wurde oder nicht. Bundesweit und flächendeckend unterstützt er den Aufbau regionaler Selbsthilfegruppen. Die Mitglieder und ihre Angehörigen sollen befähigt werden, das Leben mit PPS anzunehmen und zu gestalten.

Mit großer Sorge betrachtet Wöbbeking die ständig zunehmende Impfmüdigkeit. Er erinnert an die in den 50er Jahren herrschende, kaum vorstellbare Angst vor der grausamen Virusinfektion. Die Gefahr sei keinesfalls gebannt. Immer wieder verweist der Verband daher auf die Notwendigkeit der Schutzimpfung und fordert die Übernahme der Kosten unabhängig vom Budget. Der Vorsitzende des Verbandes, dessen Geschäftsstelle sich in der Weserbergland-Klinik, 37669 Höxter (Tel.: 0 52 71/98 34 43, Fax: 98 35 43) befindet: "Wir sind dankbar für jede Unterstützung in dem Bemühen, das Thema Polio und Kinderlähmung in den Köpfen der Menschen wach zu halten." Top

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