Gehirn lernt Gedankenlesen |
15.01.2001 00:00 Uhr |
Warum ist ausgerechnet der Homo sapiens zu größeren Gehirnleistungen und sozialem Verhalten fähig? Warum leben Autisten in ihrer eigenen Welt, ohne Verlangen nach sozialer Nähe? Das sind nur zwei von vielen bislang unbeantworteten Fragen, auf die ein Psychologensymposium kürzlich neue Antworten suchte.
Zwar stammt der Mensch weder direkt vom Schimpansen noch vom Gorilla ab, doch hat er in weiten Teilen seines Stammbaums gleiche Vorfahren. Um die Ursprünge des sozialen Verhaltens zu erforschen, beobachten Wissenschaftler daher häufig Primaten und einfach lebenden Naturvölker, erklärte Professor Dr. William C. McGrew, Soziologe und Anthropologe an der Universität Ohio, USA.
Sich kulturellen Gruppen zugehörig zu fühlen, ist sowohl beim Menschen als auch bei Menschenaffen ein Kennzeichen für soziales Verhalten. Die Mitglieder einer Kultur sind sich gleicher Normen und Standards bewusst. Bei Affen beobachtete McGrew Frühformen dieser kulturellen Gruppen: Ihr Sippenbewusstsein zeigte sich an gleichen Verhaltensweisen, zum Beispiel der Art, wie sie Nüsse knackten, sich gegenseitig kratzten und entlausten oder wie sie sich Zugang zu Ameisenlöchern und klarem Wasser verschafften.
Affen der gleichen Art, die aus einer anderen Gruppe stammten und daher andere Verhaltensmuster ausgebildet hatten, wurden von der neuen Gruppe ausgestoßen, berichtete der amerikanische Wissenschaftler. Andersartige zu akzeptieren, scheint danach keine angeborene Eigenschaft zu sein, sondern erst das Ergebnis höherer Bewusstseinsleistungen. Kultur entsteht auch durch "soziales Lernen". Dazu gehört der Erwerb verbaler oder nonverbaler Kommunikation. Bräuche innerhalb der Familie weiterzugeben, zählt man beim Menschen genauso dazu wie gesellschaftliche Umgangsformen anzunehmen, zum Beispiel die Art, sich zu grüßen oder zu verabschieden.
Familiäre Bande statt Gesetzestexte
Ähnliche Beobachtungen machte auch Professor Dr. Wulf Schiefenhövel, Anthropologe am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Andechs. Mehrere Jahre begleitete er das Leben der Ureinwohner Neuguineas, die bis heute ihre Ursprünglichkeit bewahrt haben. Sie haben keine Schriftsprache und arbeiten noch immer mit Holzwerkzeugen.
Auch ihnen scheint das Verständnis für Andersartige weder angeboren noch anerzogen. Umso stärker sind ihre familiären Bande, die in verschiedenen Riten zum Ausdruck kommen. So gab eine Familie den Großteil ihrer Jalappenwurzelernte an höherrangige Verwandte ab und wurde umgekehrt von rangniederen reichlich beschenkt.
Die Fähigkeit, Gedanken und Absichten anderer zu durchschauen, sei in Sippen-Gesellschaften nicht wichtig, so Schiefenhövel. Vertrauen sei eines der wichtigsten Grundprinzipien dieser Naturvölker. Es ersetze bei Naturvölkern Verhaltensnormen und Gesetze.
Das Prinzip der Täuschung
Die Fähigkeit einiger Tierarten, andere Artgenossen zu täuschen, gilt als Hinweis auf ein sozial denkendes Gehirn. Als Beispiel nannte Professor Dr.n Richard W. Byrne von der School of Psychology, University of St. Andrews, Großbritannien ein Affenmännchen, das sich von einem Fels halb verdeckt mit einer anderen Affendame vergnügt, während es seiner Partnerin über eine regungslose Mimik sein Alleinsein vortäuscht. Nicht jedes Tier sei dazu in der Lage. Auch Menschen müssten die Fähigkeit erst lernen, zu erahnen was andere denken. Diese "Theory of Mind" (ToM) fehle Kindern bis zu vier Jahren. Sie könnten die Gedanken anderer kaum durchschauen. Ein klassischer Test, der dies belegt: Eine Mutter legt vor den Augen ihres Jungen eine Tafel Schokolade in den linken von zwei Schränken. Nachdem der Junge den Raum verlassen hat, legt sie die Tafel in den rechten Schrank. Erzählt man die Geschichte kleinen Kindern und befragt sie anschließend nach dem Schrank, in dem der Junge nach dem Süßen suchen wird, so antworten Kinder bis zu vier Jahren in der Regel falsch. Sie tippen auf den Schrank, in dem sich die Schokolade tatsächlich befindet.
Das Du im Ich erkennen
Eine "Theory of Mind" ist Voraussetzung für situationsgemäßes Handeln, sagte Professor Dr. Josef Perner, Psychologe an der Universität Salzburg. Seine Untersuchungen an Drei- bis Vierjährigen zeigten, dass Menschen, die ihre eigenen Gedanken verstehen, auch eher die Gedanken ihrer Mitmenschen nachvollziehen können.
Doch nicht jeder Mensch ist dazu in der Lage. Um zwischen Freunden und Feinden zu unterscheiden, muss eine strategische soziale Kompetenz vorhanden sein. Viele Tiere besäßen nur eine taktische soziale Kompetenz, so Professor Dr. Bruce G. Charlton, Psychologe an der Universität von Newcastle upon Tyne, Großbritannien. Menschen dagegen nutzen die Inhalte ihrer Gedanken, um die Gedanken anderer zu verstehen.
Das strategische Sozialverhalten beruht auf dem entwicklungsgeschichtlich sehr alten somatischen Bewertungsmechanismus. Informationen, die auf einen Menschen einströmen, bewirken danach eine Körperantwort. Wie diese Reaktion ausfällt entscheidet darüber, ob man sich in bestimmten Situationen wohl oder unangenehm fühlt. So können bestimmte Informationen eine Angst-Flucht-Reaktion auslösen: Das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt, die Haut rötet sich und beginnt zu schwitzen.
Schizophrene Menschen seien psychovegetativ anders gekoppelt. Sie teilten nicht die allgemein üblichen Annahmen einer Gesellschaft und besäßen eine eigene Theorie des Denkens, oft begleitet von zusätzlichen Wahrnehmungsstörungen, so Charlton.
Wie das Gehirn Gedanken liest
Eine andere Theorie des Denkens haben auch Autisten und Menschen mit Funktionsausfall in der rechten Hirnhälfte: Sie leiden unter einem ToM-Defizit und sind daher nur beschränkt in der Lage, die Gedanken anderer zu lesen, erklärte Dr. Francesca G. E. Happé vom Psychiatrischen Institut der Universität London. Dises auch als "mind blindness" bezeichnete Defizit führe zu enormen sozialen Problemen. Autisten sei es zum Beispiel nicht möglich, einen Witz von Ironie und Sarkasmus zu unterscheiden, oder den Gefühlsausdruck anderer Menschen einzuschätzen und soziale Bindungen aufzubauen. Allerdings habe das ToM-Defizit nichts mit einem Mangel an Intelligenz zu tun, im Gegenteil: Autisten besäßen in vielen Fällen einen überdurchschnittlich hohen IQ.
Das komplexeste System im Universum?
Dass der Entwicklungsstatus einer Art nicht allein von seiner absoluten Gehirngröße abhängt, erläuterte Professor Dr. Gerhard Roth vom Bremer Institut für Hirnforschung. Das Gehirn des Pottwals zum Beispiel wiege 17 Pfund und das des Elefanten 10, während das Menschenhirn gerade einmal 3 Pfund auf die Waage bringt. Auch im relativen Vergleich von Gehirn- zu Körpergewicht (nach der exponentiellen Gehirn-Allometrie-Formel) stehe der Mensch mit 2 Prozent noch auf gleicher Stufe mit Hund, Pferd und Elefant. Auch die Neuronendichte komme nicht in Frage. Denn bereits die Maus mit 100 000 Nervenzellen pro Kubikmillimeter würde den Menschen mit 10 000 pro Kubikmillimeter deutlich in den Schatten stellen. Doch was erhebt den Menschen zur Krone der Schöpfung? Der Enzephalisations-Quotient bietet eine brauchbarere Lösung. Dabei wird das Verhältnis zwischen Gehirn- und Körpergewicht der Katze beliebig gleich eins gesetzt und alle anderen Säugetiere daran gemessen. Der Gehirn-/Körpergewicht-Quotient des Menschen ist danach sieben mal größer als der von Katzen, gefolgt vom Delfin mit Faktor 5,3 und Schimpanse (2,5).
Mehr Hirn - mehr Grips?
Ein großes Gehirn bedeute zunächst eine große Großhirnrinde (Cortex), erklärte Roth. Beim Menschen mache die Großhirnrinde 70 Prozent des Gehirngesamtgewichts aus. Damit liege der Anteil deutlich über den Zahlen anderer Säugetierarten (etwa 60 Prozent). Aber nicht nur die Fläche ist entscheidend. Für die Fähigkeit zum assoziativen Denken und Handeln muss die Rinde gut durchblutet und über Synapsen stark vernetzt sein. Die assoziativen Anteile des Cortex gelten als Zentrum des soziales Gehirns, die präfrontale Rinde als Sitz des Verstandes. Erst die komplexe Synapsenarchitektur ermögliche ein vielschichtiges Sozialverhalten, wie wir es von Menschen und ansatzweise von Affen kennen, erklärte Roth. Je höher jedoch die Neuronendichte, desto geringer die Anzahl an Axonen und Synapsen. War die Maus dem Menschen in der Neuronendichte noch klar überlegen, so wendet sich das Blatt bei der Anzahl an Axonen und Synapsen zugunsten eines höheren menschlichen Intelligenzquotienten.
Warum ausgerechnet der Mensch mit einem vergrößerten Assoziativ- und
Präfrontalcortex aus der Evolution hervorging, wissen Experten bis heute nicht.
Artübergreifend ging der Trend jedoch zu größeren Gehirnen, so Roth. Ob genetische
(Darwin) oder eher umweltbedingte Veränderungen (Lamarck) dazu führten, bleibt wohl
weiter eine Streitfrage der Evolution.
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