Entzaubertes Bewusstsein |
09.12.2002 00:00 Uhr |
von Ulrike Wagner, Düsseldorf
Die Erforschung des menschlichen Gehirns schreitet mit Siebenmeilenstiefeln voran. Kritiker befürchten dadurch die Entzauberung eines der letzten Mysterien der Menschheit. „Sind Gefühle und Gedanken reine Gehirnströme?“ Das war eine der Fragen, die Experten während einer Veranstaltung des Wissenschaftszentrums Nordrhein-Westfalen diskutierten.
„Die Öffentlichkeit starrt noch auf die Gentechnologie, aber die nächste Welle rollt bereits – und die kommt nicht aus den Life Sciences, sondern aus den Mind Sciences“, warnte Professor Dr. Thomas Metzinger vom Philosophischen Seminar der Universität Mainz. Die Entwicklungen in der Hirnforschung wirkten sich bereits heute auf das Leben des Menschen aus. Sie beeinflussen, wie die Menschen miteinander umgehen und wie sie sich selbst sehen.
Für die neuen Erkenntnisse zahle die Menschheit einen hohen Preis. Auf emotionaler Ebene sei dies das Wissen um die „radikale Sterblichkeit“. Durch die Ergebnisse der Hirnforschung werde es immer unwahrscheinlicher, dass es etwas außerhalb von neuronalen Korrelaten gebe, sagte der Philosoph. Die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod zu verlieren, verunsichere viele Menschen, die mit dem in Europa verbreiteten platonisch/christlichen Menschenbild aufgewachsen sind.
Schleichend veränderten sich bereits Begriffe wie Zurechenbarkeit, Verantwortung und Schuld. Sie haben nicht mehr dieselbe Bedeutung wie noch vor einigen Jahren. Die Hirnforschung beeinflusse zunehmend auch das Selbstbild der Menschen. Metzinger: „Nicht nur die Welt hat ihre Magie verloren, sondern auch der Mensch selbst.“ Der Zauber des Lebens gehe verloren, wenn die Menschen sich selbst nur noch als bessere Biotechroboter sehen.
Metzinger warnte vor dem Verlust sozialer Integrationspotenziale, die in unseren Breiten ebenfalls auf dem christlichen Glauben beruhen und den Umgang der Menschen innerhalb einer Gesellschaft ermöglichen. „Selbst seriöse Hirnforscher können dazu keine Alternative bieten“, sagte Metzinger. Philosophen müssten sich daher mit einer „Anthropologiefolgenabschätzung“ in die Diskussion einbringen. Die Geisteswissenschaftler sollten sich mit der Wirkung des neuen Wissens auf die Gesellschaft auseinandersetzen.
Vielleicht könnten die Menschen den Fortschritt in der Neurologie eine Weile kulturell verdrängen, wandte der Philosoph ein. In Form technischer Neuerungen werde er uns aber in ein paar Jahren wieder gegenübertreten. Er berichtete von ersten erfolgreichen Versuchen, das Bewusstsein gezielt zu manipulieren. So können Wissenschaftler mit magnetischen Impulsen einen Ausfall des Gesichtsfelds (Skotom) auslösen. Bei Patienten, denen zur Behandlung des Morbus Parkinson Elektroden ins Hirn eingepflanzt wurden, ließen sich Gefühle provozieren: Die Stimulation einer einzelnen Elektrode stürzte eine Patientin in tiefe Depressionen.
Eine Gruppe kanadischer Wissenschaftler induzierte bei Probanden durch elektrische Induktion „religiöse Erlebnisse“. „Das sind Beispiele dafür, was in den Bereich des Machbaren rückt. Es gibt keine Grund zu glauben, dass dies nicht weiterentwickelt würde“, warnte Metzinger. Daher müssten Wissenschaftler eine Bewusstseinsethik erarbeiten, um festzulegen, welche Bewusstseinszustände auf keinen Fall bei einem Menschen hervorgerufen werden dürfen. Eine „Bewusstseinskultur“ solle helfen, mit dem neuen Bild vom Menschen umzugehen.
Ein biologisches Wesen
Als überzogen bezeichnete Professor Dr. Ansgar Beckermann von der Philosophischen Fakultät der Universität Bielfeld Metzingers Ausführungen. Wohltuend nüchtern brachte er seine Zuhörer auf zumindest vermeintlich sicheren Boden. Die Folgen der Hirnforschung müssten nicht so dramatisch sein wie von vielen befürchtet. Schon lange sei es zum Beispiel mit Gehirnwäsche und Drogen möglich, das Bewusstsein von Menschen zu verändern. Die ethischen Fragen werden durch neue Methoden zwar zugegebenermaßen drängender, aber die Philosophie liefere auch darauf Antworten.
Neue Erkenntnisse könnten tatsächlich einen Umbruch im Selbstbild des Menschen bewirken. Aber auch nach den revolutionären Theorien von Kopernikus und Darwin konnten „die Menschen als Menschen weiterleben“. Der Mensch müsse sich letztlich als biologisches Wesen begreifen.
Wären Wissenschaftler vollständig darüber informiert, was im Gehirn vorgeht, und würden bildgebende Verfahren darüber vollständig aufklären, ließe sich auch herausfinden, was ein Mensch denkt und fühlt, ist die Überzeugung des Philosophen. „Nach allem was wir wissen, kann daran kein berechtigter Zweifel bestehen“, sagte er. Trotzdem müsse sich menschliches Bewusstsein deshalb nicht vollständig durch Gehirnprozesse erklären oder darauf reduzieren lassen. Lediglich eine Korrelation zwischen Hirnprozessen und Gedanken und Gefühlen sei die Voraussetzung.
Dem Gefühle- und Gedankenlesen stehen derzeit jedoch noch technische Schwierigkeiten gegenüber, die vielleicht unüberwindbar sind, so Beckermann. Die bildgebenden Verfahren seien grobkörnig, erklärte er. So könne man damit zum Beispiel nur herausfinden, dass ein Wort gesprochen wird. Die Information, um welches Wort es sich dabei handelt, liefern auch die neuen Techniken nicht. „Die bildgebenden Verfahren sind weit davon entfernt, uns darüber zu informieren, was in einem Gehirn vorgeht“, erklärte Beckermann.
Großmutterneuron
Eine zweite Schwierigkeit bezeichnen Experten als Holismus. „Es gibt kein Großmutterneuron“, sagte der Philosoph und meinte damit eine Nervenzelle, die auf den Anblick der Großmutter reagiert. Und es gibt auch kein Neuron, das ausgerechnet dann feuert, wenn ein Mensch einen Mann mit einer Glatze in blauem Mantel sieht, der einen Hund spazieren führt, veranschaulichte er. Vielleicht gebe es „Mantel-Neuronen“, „Hunde-Neuronen“, „Glatzen-Neuronen“ und „Blau-Neuronen“, die auf das jeweilige Signal reagieren. Diese würden aber auch aktiv, wenn der Beobachter eine junge Frau im Mantel sieht, die mit einem Mann mit Glatze spazieren geht und auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Frau in blauem Pullover einen Hund spazieren führt, verdeutlichte Beckermann. Um die beiden Situationen zu unterscheiden, müsste man umfassend über die Aktivität aller Neuronen informiert sein und wissen, welche Nervenzellen synchron feuern. „Diese Informationen liefern bildgebende Verfahren nicht.“ Außerdem gebe es große Unterschiede in der Neuronenaktivität zwischen verschiedenen Menschen und auch die Umwelt und die eigene Entwicklung haben einen Einfluss darauf.
Viele Menschen wehren sich intuitiv dagegen, Gehirn und Gefühle gleichzusetzen, erklärte Professor Dr. David Papineau vom King´s College in London. Formulierungen wie „das Gehirn generiert Gefühle“ und „die Suche nach neuronalen Korrelaten für Gefühle“ entlarvten selbst viele Neurowissenschaftler als Dualisten, die Gefühl und Gehirn als zwei ganz unterschiedliche Dinge auffassen. Papineau geht hingegen wie alle Materialisten davon aus, dass Bewusstseinszustände und Hirnprozesse dasselbe sind. Für die Forschung sei die Grundeinstellung jedoch letztlich gleichgültig. Denn während der Materialist herausfindet, wie im Gehirn Gefühle entstehen, erforscht der Dualist Regionen im Gehirn, die diese Gefühle triggern. „Letztlich legen beide Forscher den Finger auf die gleiche Stelle“, so Papineau.
Nüchterne Bilder
Angesichts der tief schürfenden Theorien der Philosophen wirkten die von den Hirnforschern präsentierten Bilder wie bunte Spielereien – eher grobschlächtig und vergleichsweise harmlos. So beschrieb Dr. Henrik Walter vom Universitätsklinikum Ulm, den Einsatz der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie, um die Aktivität verschiedener Hirnregionen zu messen. Grundlage ist die erhöhte Durchblutung in aktivierten Bereichen. Dadurch verändert sich die Menge des Desoxyhämoglobins in den venösen Gefäßen des Gehirns und damit auch das Magnetfeld. Auf diesem Prinzip basiert die als BOLD-fMRI (Blood oxygen level dependent functional magnetic resonance imaging) bezeichnete Technik, die es erstmals ermöglichte, die Aktivität des Gehirns direkt am lebenden Menschen zu untersuchen.
Die Forscher beobachten die Reaktionen auf bestimmte Stimuli und einfache Aufgaben, die den Probanden gestellt werden. So fanden sie zum Beispiel heraus, dass bei jungen Männern, die sich für Autos interessieren, der Nucleus accumbus aktiv wird, sobald sie ein Bild eines schicken Sportwagens anschauen. Bei der Region im Gehirn handelt es sich um das Belohnungszentrum, dessen Neuronen bei Männern auch nach Kokain-Genuss, Geldgewinn, Genuss von Schokolade, sexuellen Stimuli und beim Anblick attraktiver Frauen feuern.
Sehr viel komplexer scheint die Regulation von Sprache zu sein. Denn dabei handelt es sich nicht um einheitliche Aktionen, die nach einem bestimmten Schema ablaufen. Wörter sind im Gehirn nicht als unveränderbare vorgefertigte Muster vorhanden, sie werden immer wieder neu aus etwa 60 Lauten geformt, erklärte Professor Dr. Peter Hagoort von der niederländischen Universität Nijmegen. Versprecher belegen dies. Ins Bewusstsein kommen dabei nur die Endpunkte einer ganzen Reaktionskette, die Gedanken und die Klänge. Alles andere läuft wie bei vielen anderen mentalen Prozessen unbewusst ab. Allerdings kann die Regulation dieser Prozesse auch scheitern. So fanden Wissenschaftler bei Schizophrenen, die Stimmen hörten, tatsächlich eine Aktivierung der Hörrinde, obwohl es objektiv keine Stimmen gab, die der Hörnerv an die Hörrinde hätte weitergeben können.
Die Sprache hält der Wissenschaftler für eine der herausragendsten Errungenschaften des Menschen: Unser Bewusstsein wäre ohne Sprache nicht dasselbe. Die Fähigkeit, über die Sprache unsere innersten Gefühle mit anderen Menschen zu teilen, unterscheide uns von Tieren, resümierte Hagoort.
Wie das Gehirn Fehler bemerkt und korrigiert, war das Thema des Vortrags von Professor Dr. Thomas F. Münte von der Universität Magdeburg. „Fehler zu detektieren ist einer der schnellsten kognitiven Prozesse überhaupt, er beginnt bereits bevor wir den Fehler überhaupt machen“, sagte der Mediziner. Unmittelbar nach einer fehlerhaften Aktion wird elektrische Aktivität im Gyrus cinguli ausgelöst, die offensichtlich etwas mit dem Bemerken des Fehlers zu tun hat. Regionen im seitlichen Stirnhirn stehen hingegen mit der Kontrolle und Inhibition von Verhalten in Verbindung.
Auch wenn die Ergebnisse der Wissenschaftler faszinieren und im Vergleich zu den Erkenntnissen vor einigen Jahren revolutionär sind, von der Entschlüsselung des Bewusstseins kann offensichtlich noch lange keine Rede sein. Trotzdem scheint für viele Menschen mit jeder neuen Entdeckung ein Stückchen Magie des Lebens verloren zu gehen.
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