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Viren legen Luxusliner lahm

02.12.2002  00:00 Uhr

Viren legen Luxusliner lahm

von  Ulrike Wagner, Eschborn

Besonders hartnäckige Durchfallerreger breiten sich derzeit in Deutschland aus. Hin und wieder suchen die Norwalk-ähnlichen Viren jedoch auch medienwirksam Kreuzfahrtschiffe heim, wo der Traumurlaub Hunderter Passagiere zum Alptraum wird: Von Brechdurchfällen geplagt, müssen sie ihre Kabine hüten.

Gastroenteritis-Ausbrüche auf Grund Norwalk-ähnlicher Viren sind nichts Neues: Meistens sind Gemeinschaftseinrichtungen wie Krankenhäuser, Altenpflegeheime und Kindertagesstätten betroffen. Allerdings stieg die Zahl der Erkrankungen in diesem Jahr stark an. Während 2001 in Deutschland noch 9054 Infektionen mit Norwalk-ähnlichen Viren gemeldet wurden, waren es bis Ende November 2002 bereits mehr als 21.000.

Teilweise basiert dieser Anstieg auf einer verbesserten Diagnostik und darauf, dass mehr Ärzte die Erkrankungen melden, räumt das Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin ein. Trotzdem gehen auch die Experten davon aus, dass sich die Viren derzeit weiter ausbreiten, denn in anderen Ländern steigt die Zahl der an einer Infektion mit Norwalk-ähnlichen Viren Erkrankten ebenfalls an. Zudem sind die tatsächlichen Infektionsraten wahrscheinlich viel höher als die ans RKI gemeldeten. Denn nur die wenigsten Patienten gehen auf Grund von Brechdurchfällen zum Arzt, der dann wiederum nicht jede Gastroenteritis diagnostisch abklärt, zumal es keinen evaluierten, kommerziell erhältlichen Test für den Nachweis von Norwalk-ähnlichen Viren gibt. Warum sich die Viren derzeit weiter ausbreiten, ist noch völlig unklar.

Norwalk-ähnliche Viren sind gegenüber Umwelteinflüssen und Desinfektionsmitteln ausgesprochen resistent. Daher sind sie in der Lage, sich relativ lange auf Oberflächen zu halten. Wer so kontaminierte Oberflächen berührt und die Hand ungewaschen zum Mund führt oder damit etwas isst, läuft Gefahr, ebenfalls an heftigen Brechdurchfällen zu erkranken. Denn die für eine Infektion nötige Zahl an Viren ist gering: Etwa 10 bis 100 Viren reichen aus.

Kein Wunder, dass es auch auf Kreuzfahrtschiffen trotz mehrfacher Desinfektion immer wieder zu Ausbrüchen kommt – zuletzt Anfang Dezember auf der „Fascination“. Etwa 175 Menschen waren während einer dreitägigen Bahamas-Tour an Brechdurchfällen erkrankt. Mitte November kam es auf dem Disney-Kreuzer „Magic“ zu einem Ausbruch auf Grund von Norwalk-ähnlichen Viren mit fast 200 Erkrankten. Zuvor war das Schiff bereits gereinigt worden, da während der vorangegangenen Reise fast 300 Menschen unter Brechdurchfällen litten.

Mitte November waren auf dem Kreuzfahrtschiff „Amsterdam“ zum vierten Mal in Folge Passagiere erkrankt, obwohl das gesamte Schiff immer wieder gereinigt wurde. Das Personal des Schiffs hatte Infizierte und Kontaktpersonen angewiesen, ihre Kabinen vorläufig nicht zu verlassen. Falls dem nicht Folge geleistet würde, werde eine Wache vor den Kabinen aufgestellt, schilderte ein Augenzeuge die Situation während einer der Kreuzfahrten. Jetzt hat der Reeder die nächste Kreuzfahrt abgesagt, um das Schiff zehn Tage lang desinfizieren zu lassen. Ob dies gegen die hartnäckigen Viren ausreicht, werden die nächsten Passagiere erleben. Bereits im August war die MS-Berlin von einer Rundreise vorzeitig aus der Ostsee nach Kiel zurückgekehrt, wie fast die Hälfte der 378 Passagiere an Erbrechen und Durchfall erkrankt waren. Wie die Viren an Bord der Luxusliner gelangten, ist derzeit noch unklar.

Aber nicht nur Kreuzfahrtschiffe waren von den Ausbrüchen in den vergangenen Wochen betroffen. Mehrere Kliniken, Altenpflegeheime und Kindertagesstätten in ganz Deutschland mussten auf Grund von Norwalk-ähnlichen Viren vorübergehend schließen.

Kaum bekannt

Prototyp dieser Erreger ist ein Virus, das 1972 in Norwalk, Ohio, erstmals per Immunelektronenmikroskopie nachgewiesen wurde. Es zählt zu den Caliciviren, die alle Gastroenteritiden hervorrufen. Die Viren sind recht einfach aufgebaut, haben einen Durchmesser von 26 bis 35 Nanometern und besitzen ein Kapsid, das aus einem einzigen Protein aufgebaut ist. Ihre charakteristische Oberfläche mit kleinen, kelchartigen Vertiefungen stand bei der Namensgebung Pate: Das lateinische Wort calix bedeutet Kelch.

Die Caliciviren werden heute in vier Genera unterteilt, einen Genus bilden die Norwalk-ähnlichen Viren (Norwalk-like viruses = NLV). Über diese Krankheitserreger ist bislang wenig bekannt, da ihr einziges Reservoir der Mensch zu sein scheint. Der gelegentliche Nachweis der Erreger bei Haustieren stehe nicht in Zusammenhang mit Erkrankungen beim Menschen, informiert das Robert-Koch-Institut. Norwalk-ähnliche Viren lassen sich weder in Zellkultur züchten, noch war es bislang möglich, Tiere experimentell mit den Erregern zu infizieren. Beides ist jedoch erforderlich, um die Viren zu erforschen und zuverlässige Diagnose-Verfahren zu entwickeln. Dass die Viren ihre Erbsubstanz außerordentlich schnell verändern, erschwert ihre Erforschung zusätzlich.

Ausbrüche vor allem im Winter

Norwalk-ähnliche Viren sind weltweit verbreitet und für 30 Prozent der Magen-Darm-Infektionen bei älteren Kindern verantwortlich. Bei Erwachsenen sind sie sogar die Ursache jeder zweiten Gastroenteritis. Säuglinge und Kinder von zwei Monaten bis zwei Jahren erkranken nur sporadisch. Übertragen wird das Virus das ganze Jahr über, allerdings häufen sich die Infektionen in den Wintermonaten.

Erkrankte Menschen scheiden die hoch infektiösen Viren in großer Zahl über den Stuhl und Erbrochenes aus. Die Übertragung erfolgt meist fäkal-oral, aber auch über Tröpfchen, die sich bilden, wenn ein Erkrankter erbricht. Verunreinigte Nahrungsmittel kommen als Infektionsquelle ebenfalls infrage. So hatte zum Beispiel in den 80er-Jahren ein einziger an einer Norwalk-Virus-Infektion erkrankter Bäckereiangestellter in den USA etwa 3000 Menschen infiziert.

Auch über den Genuss von Schalentieren können die Erreger übertragen werden. Besonders häufig erkranken Menschen an einer Infektion mit Norwalk-ähnlichen Viren, nachdem sie Austern gegessen haben. Die Erreger gelangen ins Wasser, wenn zum Beispiel Freizeitkapitäne ihre Fäkalien im Meer entsorgen. Da Muscheln Meerwasser filtrieren, reichern sie die Viren an. Daher rät das RKI zum Beispiel von nicht ausreichend gegartem Fisch und Meeresfrüchten ab. Auch über mit Fäkalien verunreinigtes Trinkwasser sowie Schwimmbadwasser kann es zu Infektionen kommen.

Im vergangenen April sorgte zum Beispiel eine Meldung der Abteilung für Lebensmittelkontrolle des Gesundheitsamts im Kanton Solothurn für Aufsehen. Nach deren Untersuchungen enthielten mehrere in der Schweiz abgefüllte oder vertriebene Mineralwässer Norwalk-ähnliche Viren. Die Entdeckung wurde im renommierten Fachjournal Nature veröffentlicht. Der Verband der Schweizerischen Mineralquellen und Soft-Drink-Produzenten zweifelte das Ergebnis an: Die verwendete Untersuchungsmethode sei besonders empfänglich für Kontaminationen. Tatsächlich scheinen die Mineralwässer nicht in Zusammenhang mit Gastroenteritis-Ausbrüchen zu stehen - vielleicht auch, weil die Getränke sehr wenige Viren enthielten. Die Kontamination könnte sporadisch durch menschliche Fäkalien direkt an der Quelle oder während der Abfüllung erfolgt sein. Über den tatsächlichen Kontaminationsvorgang herrscht aber noch Unklarheit.

Äußerst selten lebensgefährlich

Die Inkubationszeit nach einer Infektion mit Norwalk-ähnlichen Viren beträgt ein bis drei Tage. Danach setzt die Erkrankung abrupt mit Erbrechen und starken, wässrigen Durchfällen ein. Die Patienten fühlen sich oft sehr krank, leiden unter abdominalen Schmerzen, Übelkeit, Kopfschmerzen, Myalgien und/oder Mattigkeit. Die Temperatur kann erhöht sein, hohes Fieber tritt jedoch in der Regel nicht auf. Sind die Patienten ansonsten gesund, halten die Symptome nur 12 bis 72 Stunden an. Danach fühlen sich die Betroffenen spontan besser. Auch leichte oder asymptomatische Verläufe der Infektion sind möglich. Menschen mit einem schlechten Ernährungszustand, sehr junge und ältere Patienten sind jedoch durch den Verlust von Wasser und Elektrolyten gefährdet.

Patienten mit Brechdurchfällen scheiden die Viren während der Erkrankung und mindestens bis zu 48 Stunden (seltener bis zu zwei Wochen) danach aus. Der Nachweis der Erreger im Stuhl ist jedoch derzeit nur in Speziallabors möglich. Eingesetzt werden Polymerase-Kettenreaktion (PCR), Elektronenmikroskopie sowie Immunelektronenmikroskopie. Ein in Zukunft kommerziell erhältlicher Antigen-Test wird derzeit geprüft. Das RKI hofft, dass die Methode die Erwartungen hinsichtlich Spezifität und Sensitivität erfüllen wird.

Eine spezifische Therapie steht genauso wenig zur Verfügung wie ein Impfstoff gegen die Viren. Meistens reicht jedoch eine ambulante Behandlung mit Ausgleich der Flüssigkeits- und Elektrolytverluste aus. Um eine weitere Ausbreitung der Viren zu verhindern, sollten Patienten Bettruhe einhalten und isoliert werden. Sowohl Betroffenen als auch Kontaktpersonen empfiehlt das RKI, allgemeine Hygieneregeln konsequent einzuhalten. Dazu gehört gründliches Händewaschen nach jedem Gang zur Toilette, nach Kontakt mit einem Erkrankten und vor der Zubereitung von Speisen sowie Abtrocknen der Hände an Einweg-Handtüchern oder zumindest an einem eigenen Handtuch. Wegen der möglichen verlängerten Ausscheidung der Viren empfiehlt es sich, diese Regeln mindestens bis zwei Wochen nach Verschwinden der Symptome zu befolgen. Zudem sollte verunreinigte Wäsche bei Temperaturen von über 60 Grad Celsius gewaschen werden.

Hygienemaßnahmen

Bei einem Ausbruch in Gemeinschaftseinrichtungen sollten zusätzlich viruswirksame, alkoholhaltige Desinfektionsmittel für die Hände und für patientennahe Flächen zum Einsatz kommen. Dem Pflegepersonal empfiehlt das RKI Schutzkittel, Handschuhe und Mundschutz.

Infektionen mit Norwalk-ähnlichen Viren sind laut Infektionsschutzgesetz meldepflichtig. Laborleiter müssen den Nachweis der Viren melden. Ärzte sind verpflichtet, den Krankheitsverdacht sowie die Erkrankung an einer akuten infektiösen Gastroenteritis zu melden, wenn die Person zum Beispiel an der Zubereitung von Lebensmitteln oder der Betreuung in Gemeinschaftseinrichtungen beteiligt ist oder wenn zwei oder mehr gleichartige Erkrankungen auftreten, bei denen ein epidemiologischer Zusammenhang wahrscheinlich ist.

Allgemein gilt, bei einer Magen-Darm-Infektion lieber zu Hause zu bleiben, weil die Gefahr, andere anzustecken, sehr groß ist. Erkrankte Kinder unter sechs Jahren dürfen aus diesem Grund Gemeinschaftseinrichtungen nicht besuchen. Auch dürfen erkrankte Personen weder in Lebensmittelberufen noch als Betreuer in Gemeinschaftseinrichtungen tätig sein. Sie sollten ihre Arbeit frühestens zwei Tage nach Abklingen der Symptome wieder aufnehmen. Top

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