Viren im Visir |
20.11.2000 00:00 Uhr |
HIV und Aids haben Forscher und Ärzte aufgerüttelt und Viruskrankheiten stärker ins Bewusstsein gerückt. Die Erforschung der HIV-Infektion und ihrer Behandlung gilt als Schrittmacher für die Entwicklung der antiviralen Therapie überhaupt. Einige Virusinfektionen, zum Beispiel Influenza oder Hepatitis C, sind inzwischen behandelbar; dafür treten neue Viren auf, die extrem gefährlich sind.
Wir leben in einem "Jahrhundert der Viruserkrankungen", hieß es beim ersten Kongress für Viruskrankheiten Mitte November in München. Ziel des "ConVir 2000" war es, Grundlagenforscher, Epidemiologen und Kliniker zusammenzuführen.
Erkenntnisse aus der Bekämpfung des Aids-Erregers müssten auf andere viral bedingte Erkrankungen übertragen werden, forderte der Kongresspräsident Professor Dr. Frank-D. Goebel, Leiter der Infektionsabteilung an der Uni-Klinik München. Immer deutlicher zeige sich, dass für alle chronischen Viruskrankheiten gilt, was für HIV längst erwiesen ist: Nur eine Kombinationstherapie, die möglichst an mehreren Punkten im Zyklus des Virus ansetzt, kann dessen Vermehrung hemmen. Eine Elimination ist bislang nicht möglich. Jede Dauertherapie, die das Virus nicht komplett unterdrückt, selektioniert resistente Mutanten.
Die rasche weltweite Verbreitung von Viren und ihren Vektoren sowie neue Viren machen den Virologen zu schaffen. So ist das Dengue-Fieber aus Ostasien inzwischen in Südamerika und allen subtropischen Regionen der Erde verbreitet, aber "auch in der Po-Ebene können Sie sich mit dem hämorrhagischen Dengue-Fieber infizieren", sagte Professor Dr. Bernhard Ruf, Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Infektiologie, bei der Einführungspressekonferenz.
Neue Erreger aus der Gruppe der Paramyxo-Viren sind das Nipah- und das Hendra-Virus, erläuterte Professor Dr. L. Gürtler, Greifswald. Das Nipah-Virus wurde 1998 bei einem Einwohner des Dorfes Sungai Nipah in Malaysia entdeckt. Es wird von Flughunden und Fledermäusen auf schweine übertragen und gelangt von dort in den Menschen. Nach einer Inkubationszeit von etwa zwei Wochen treten hohes Fieber, Kopfschmerzen, Übelkeit und Enzephalitis auf. Die Letalität ist hoch: Ein Drittel der Patienten stirbt. In Malaysia sind bislang mehr als 100 Menschen an der Nipah-Infektion gestorben, allesamt Schweinemäster.
Nicht minder gefährlich ist das nah verwandte Hendra-Virus, das bisher nur in Australien aufgetrat, erstmals 1994. Das Virus löst bei Pferden eine tödliche Pneumonie aus und hieß früher Equines Morbillivirus. Einheimische Fledermäuse sind das natürliche Reservoir für den Erreger, der anscheinend ansonsten nur Pferde und Menschen befällt. Beim Menschen löst es eine Pneumonie und Enzephalitis aus, die bei drei bisher beobachteten Patienten zum Tod führte.
Unklar ist die Rolle eines Hepatitis-C-Virus-(HCV)-ähnlichen Flavivirus namens GBV-C, das auch als Hepatitis-G-Virus bezeichnet wird. Wie HIV wird das RNA-Virus parenteral oder sexuell übertragen und chronifiziert, löst aber keine Hepatitis aus. Bislang weiß man nicht, ob es pathogen ist. Im Gegenteil: Eine Co-Infektion mit GBV-C scheint den Verlauf einer HIV-Infektion günstig zu beeinflussen und die Progression zu verzögern. Über welche Mechanismen GBV-C dies bewirkt oder ob das Virus nur ein Marker für ein bislang unbekanntes Agens ist, muss noch erforscht werden.
Neulinge aus der Gruppe der Circo-Viren sind TTV und SEN-Viren. Beide Namen leiten sich vom Initial eines Patienten her, erklärte Gürtler. Bei beiden Viren handelt es sich um DNA-Viren. Möglicherweise ist SEN mit Tumoren assoziiert; zumindest sind Circo-Viren bei Tieren onkogen.
Viel von ihrem Schrecken verloren hat die Influenza. Trotz Einführung der Neuraminidase-Hemmer ist die prophylaktische Impfung der Goldstandard, betonten die Experten. Entgegen der Empfehlung des Robert-Koch-Instituts rät Professor Dr. Hartmut Lode von der Freien Universität Berlin, erst ab Mitte Oktober mit der Impfung zu beginnen. Der Immunschutz baue sich innerhalb von zwei Wochen auf. Die Grippesaison beginne erfahrungsgemäß ab Dezember und dauere bis März an. Bei zu zeitiger Impfung sieht Lode die Gefahr, dass die Antikörpertiter zu früh wieder sinken und der Impfschutz nicht die komplette Zeitspanne abdeckt, während der das Virus im Umlauf ist.
Besonders gefährdet sind alte und ältere Menschen, Diabetiker und Raucher: Ist die Funktion des Flimmerepithels in den Atemwegen beeinträchtigt, haben die Viren leichtes Spiel. Die Infektion schwächt die bronchoalveoläre Clearance weiter, so dass es zu bakteriellen Superinfektionen kommen kann, zum Beispiel mit Staphylococcus aureus.
Der Haken bei den Neuraminidase-Hemmern Zanamivir (Relenza®) und Oseltamivir: Sie helfen nur bei einer Infektion mit Influenza-Viren und bei frühzeitigem Einsatz. "Doch von zehn schniefenden Patienten in der Arztpraxis ist vielleicht einer mit Influenza infiziert", sagte Ruf.
Weiß der Arzt, dass das Influenza-Virus im Umlauf ist, könne er die Diagnose anhand der klinischen Zeichen mit 70-prozentiger Trefferquote stellen, ergänzte Professor Dr. Adrian Gillissen, Universität Bonn, bei einem von der Firma Hoffmann-La Roche unterstützten Satellitensymposium. Typische Zeichen bei Erwachsenen und Kindern: plötzlich und vehement einsetzendes Fieber, Kopfschmerzen, Husten, Atembeschwerden und Benommenheit. Schnelltests können das Virus mit einer Sensitivität von etwa 70 Prozent innerhalb von 12 bis 45 Minuten nachweisen, berichtete der Mediziner. Beginnt die Therapie innerhalb von 48 Stunden nach Infektion, können die Medikamente die Komplikationsrate senken und die Krankheitsdauer um 1,5 bis 2,5 Tage verkürzen.
Oseltamivir (Tamiflu®; Zulassung in der EU wird Ende 2001 erwartet) wird nach oraler Gabe rasch resorbiert und mittels Esterhydrolyse weitgehend in den aktiven Metaboliten Ro 64-0802 (GS 4071) umgewandelt. Dessen absolute Bioverfügbarkeit beträgt etwa 80 Prozent. Mit dem Blutkreislauf gelangt der Wirkstoff in die infizierten Organe, zum Beispiel Lunge, Nasenschleimhaut und Mittelohr. Dort blockiert er das virale Enzym Neuraminidase, das für die Abtrennung des neu gebildeten Viruspartikels von der Wirtszelle sorgt.
Oseltamivir und sein Metabolit werden überwiegend renal eliminiert. Daher soll die Dosis bei schwerer Niereninsuffizienz (Kreatininclearance kleiner 30 ml/min) auf einmal 75 mg täglich gesenkt werden. Die Normdosis sind zweimal täglich 75 mg. Diese Menge zu erhöhen bringt nichts, erklärte Gillissen anhand einer Studie mit 726 ungeimpften Patienten. Mit Placebo waren die Patienten im Mittel 4,9 Tage krank; bei frühzeitiger Einnahme von täglich 300 mg Verum waren es 3,6 und von 150 mg 3,4 Krankheitstage. Gastrointestinale Nebenwirkungen seien selten und ließen sich minimieren, wenn man die Tabletten zum Essen nimmt.
Zanamivir ist in Deutschland nur zur Therapie zugelassen, in der Schweiz auch zur Prophylaxe. Eine Expositionsprophylaxe mit Neuraminidase-Hemmern kann zum Beispiel für nicht-geimpftes Pflegepersonal oder schwerkranke Patienten sinnvoll sein, die in Kontakt mit Influenza-Infizierten kommen. Die Grippeschutzimpfung und der Einsatz von Neuraminidase-Hemmern schließen sich nicht aus.
Ursprünglich hatte Roche mit der Zulassung des peroralen Neuraminidaseinhibitors Oseltamivir (Tamiflu®) im Herbst dieses Jahres gerechnet. Das Unternehmen hatte jedoch den europäischen Zulassungsantrag bei der EMEA zurückgezogen, nachdem einige Mitglieder des Europäischen Ausschusses für Arzneimittelspezialitäten (CPMP) bemängelt hatten, dass klinische Daten zu Influenza B fehlten. Nach Angaben der Firma sei in den letzten beiden Grippeperioden Influenza B relativ selten aufgetreten, daher konnten nicht genug Daten hierzu gewonnen werden. Die Firma plant, die Zulassung für die nächste Saison erneut zu beantragen, wenn ausreichende Daten vorliegen. In experimentellen Studien an gesunden Probanden sei die Wirksamkeit des Neuraminidaseinhibitors gegen das seltenere Influenza-B-Virus jedoch bereits belegt. Oseltamivir ist zur Behandlung der Virusgrippe in etwa 20 Ländern zugelassen, so zum Beispiel in den USA, Kanada und Lateinamerika.
Auch die chronische Hepatitis C kann heute diagnostiziert und behandelt werden. Mit Interferon-a-2a und -2b und dem Nukleosidananlogon Ribavirin kann der Erreger in Schach gehalten, wenn auch vermutlich nicht eradiziert werden. Relativ neu auf dem Markt sind Interferon-alfacon-1 (Consensus Interferon; Inferax®) und ein pegyliertes Interferon-a-2b (PegIntron®), das im Kfrper langsamer freigesetzt, abgebaut und ausgeschieden wird. Dadurch entstehen konstante Wirkstoffspiegel, und das Interferon muss nur einmal pro Woche injiziert werden.
Kehrseite des Fortschritts: Hier entstehen eminente Kosten, gab Ruf zu bedenken, denn die Kombitherapie sei sehr teuer. In Deutschland leben schdtzungsweise 500 000 chronisch HCV-infizierte Menschen. Gegen die akute Hepatitis C gibt es derzeit keine Medikamente; die Chronifizierung ldsst sich mfglicherweise durch Interferone verhindern.
Übertragen wird das variable Flavivirus auf parenteralem und sexuellem Weg. Bei Needle-sharing, Organtransplantationen, Tätowierung, Piercing und Nadelstichverletzungen kann es in den Körper gelangen. Eine Übertragung von der Mutter auf das Kind wdhrend der Geburt ist möglich. Das Risiko liegt bei weniger als 10 Prozent, erhöht sich aber bei gleichzeitiger HIV-Infektion. Ob Steckmücken auch HCV wie Dengue- oder Gelbfieberviren (ebenfalls Flaviviridae) übertragen können, ist unbekannt.
Die Pocken haben es bewiesen: Bei konsequenter Impfung und Überwachung kann eine Viruserkrankung ausgerottet werden. Bei Polio ist das Ziel noch nicht erreicht. Weltweit sank die Zahl der gemeldeten Fälle von rund 40 000 (1988) auf 5000 bis 6000 im letzten Jahr. In Deutschland wurde der letzte Polio-Fall 1990 gemeldet, in Europa 1998.
Auf der WHO-Liste der auszurottenden Viruserkrankungen ganz oben (bis 2007) stehen die Masern, die in Deutschland weit verbreitet sind. Und dies, obwohl seit den siebziger Jahren ein Masern-Impfstoff und seit 1980 eine Kombi-Vakzine gegen Masern, Mumps und Röteln zur Verfügung steht. In der früheren DDR war die Impfung Pflicht; dort trat die Virusinfektion deutlich seltener als im Westen auf, berichtete Dr. Annedore Tischer vom Robert-Koch-Institut. Angesichts möglicher Komplikationen wie Enzephalitis rät sie dringend von "Masern-Parties" ab, die Eltern veranstalten, damit sich ihre Kinder mit dem Erreger infizieren. Eine Maserninfektion gilt bei einigen Eltern als wichtiges Immunstimulans für die Entwicklung ihrer Kinder.
Ein bundesweites Interventionsprogramm soll den Masern den Garaus machen. Ziel ist es, die Inzidenz unter 1 : 100 000 Einwohner zu drücken. Die Durchimpfungsrate von derzeit 80 bis 90 Prozent (regional stark schwankend) soll über 95 Prozent steigen und die erste Impfung möglichst früh erfolgen. Ab 1. Januar 2001 sind Masernerkrankungen meldepflichtig.
Die Erkrankungsraten besser erfassen soll eine "Arbeitsgemeinschaft Masern", der neben dem RKI das Deutsche Grüne Kreuz und mehrere Impfstoffhersteller angehören. Aus 1199 Arztpraxen wurden von November 1999 bis September 2000 888 Masernfälle gemeldet. 40 Prozent wurden in Labors überprüft und mehr als Hälfte bestätigt, sagte Tischer. Am häufigsten betroffen sind ein- bis neunjährige Kinder (70 Prozent); 10 Prozent waren geimpft, 85 Prozent nicht. Bei einem Drittel von ihnen hatten Eltern oder Betreuungspersonen die Impfung abgelehnt. Als Komplikationen gaben 15 Prozent der Meldebögen eine Pneumonie und 17 Prozent Otitiden an. Wichtiges Ergebnis: Kein Masern-Kind hatte vorher zwei Impfungen bekommen.
In zwei Jahren könnte ein Masern-Mumps-Röteln-Varizellen-Impfstoff dazu beitragen, die "häufigste impfpräventable Erkrankung" der Kinder einzudämmen. Die Windpocken können bei immungeschwächten Kindern, Älteren und schwangeren Frauen dramatisch verlaufen und zu Pneumonie, Enzephalitis, Embryopathie und sogar zum Tod des Kindes führen. Professor Dr. Peter Wutzler von der Universität Jena brach in München eine Lanze für die generelle Varizellen-Impfung; ein monovalenter Lebendimpfstoff steht dafür zur Verfügung.
Die STIKO empfiehlt diesen derzeit nur für Risikogruppen, zum Beispiel für Kinder mit Leukämie oder vor einer geplanten Transplantation oder Immunsuppression, Patienten mit Krebsleiden oder schwerer Neurodermitis sowie medizinisches Personal in der Pädiatrie, der pädiatrischen Onkologie und der Schwangerenfürsorge. Frauen mit Kinderwunsch sollten ebenfalls vor Windpocken geschützt sein.
Hat die Mutter Antikörper gegen Varicella zoster (VZV), gibt sie ihrem Baby eine Leihimmunität mit, die bis zum 9. Lebensmonat anhält. Dies sei auch gewährleistet, wenn der Immunschutz der Mutter infolge einer Impfung entstanden ist, erläuterte Wutzler im Gespräch mit der PZ. Eine Analyse von knapp 4500 Seren ergab, dass 5 bis 6 Prozent der Frauen keine VZV-Antikörper haben. Ein Anstieg der Antikörper war bei Kleinkindern ab dem zweiten Lebensjahr zu beobachten. Offensichtlich kommen die Kinder in diesem Alter vermehrt mit dem Virus in Berührung. In der Altersgruppe der 6- bis 7-Jährigen wiesen fast 90 Prozent Antikörper auf. "Gegen Varizellen muss man früh impfen", folgerte der Mediziner.
In zwei bis drei Generationen könnte die Hepatitis B eliminiert sein, schätzt Professor Dr. Wolfgang Jilg von der Universität Regensburg. Die Impfung ist ein einer Sechsfach-Vakzine enthalten und gehört zum Impfplan der STIKO. Über 90 Prozent der Impflinge entwickeln Antikörper gegen das Virus und sind für mindestens zehn Jahre geschützt. Dazu sollen die Anti-HBs-Titer über 10 I.U./l liegen. Aber auch 15 Jahre nach der Grundimmunisierung könne man mit einer Impfung eine Boosterung auslösen.
Was tun bei Non-Respondern? Auf eine vierte Impfung spricht immerhin ein Drittel der Non-Responder an, mit der fünften Spritze erzielt etwa die Hälfte einen ausreichenden Antikörpertiter. Das ist für Jilg nicht befriedigend. Neue Impfstoffe enthalten weitere Proteine (preS1-und preS2-Regionen des HBs-Antigens) oder neue Adjuvantien wie MF 59, die die Immunogenität erhöhen sollen.
Problematisch sind ferner so genannte Escape-Mutanten des Virus, die ihre Oberfläche soweit verändert haben, dass sie vom Immunsystem nicht mehr erkannt werden. Jilg: "Das Virus ist variabler als ursprünglich gedacht." Die "unbelebten Überlebenskünstler" sind raffinierter als manchem Forscher lieb ist.
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