Bulimie kann Betroffene bis zum Selbstmord treiben |
24.09.2001 00:00 Uhr |
PZ Seit die spindeldürre Twiggy in den 60ern den androgynen Typ prägte und später Nancy Reagan hohlwangig verlauten ließ "Eine Frau kann nie zu schlank sein", greift er vehement wie ein aggressives Virus um sich - der Diät- und Schlankheitswahn. Er kann zwar nicht allein für das Krankheitsbild der Essstörung verantwortlich gemacht werden. Aber gezügeltes Essverhalten und wiederholte Diäten ebnen den Weg in die Bulimie, schreibt der Berufsverband der Frauenärzte e. V. in einer Pressemitteilung.
Seit Ende der 70er Jahre wird die Bulimia nervosa als eigenständiges Krankheitsbild beschrieben. Sie ist aber schon seit der Antike bekannt. Ihr Name leitet sich von den griechischen Begriffen bous (Ochse, Stier) und limos (Hunger) ab, wörtlich übersetzt bedeutet die Bezeichnung also Ochsenhunger.
Charakteristisch für die Bulimie ist das unkontrollierte Verschlingen riesiger Nahrungsmengen in sehr kurzer Zeit und das anschließende Erbrechen. Ein Phänomen, dem die Erkrankung auch ihren banalen Namen "Fress-Brech-Sucht" verdankt.
Diagnosekriterien Wiederholte Essanfälle, bei denen in kürzester Zeit große Nahrungsmengen vertilgt werden
Das Gewicht der Bulimiker liegt meistens im Normalbereich. Trotzdem versuchen die Betroffenen - zumeist Frauen - ihr Gewicht unter einer selbst auferlegten Grenze zu halten.
Heimlichkeit als Merkmal
Auf das soziale Umfeld wirken sowohl das Erscheinungsbild als auch der Umgang mit dem Essen normal. Die Essanfälle finden in aller Heimlichkeit statt; niemand darf davon erfahren. Das Erbrechen, zu Beginn der Krankheit als perfekter Ausweg empfunden, wird mit zunehmender Häufigkeit als Beschämung und Schwäche verstanden. Es verselbstständigt sich der Kreislauf Essen und Erbrechen und entwickelt sich zu einer wiederkehrenden Ohnmacht beziehungsweise Fremdbestimmung. Die meisten Betroffenen leiden an mangelndem Selbstwertgefühl, sie empfinden Schuld, ekeln sich vor sich selbst, hassen ihren Körper und neigen zu Depressionen. Nicht selten denken sie an Selbstmord.
Körperliche Folgen Störungen im Elektrolyt-Haushalt
Für den Grundkonflikt der Erkrankung halten Experten die Suche nach der eigenen Identität. Sie ist häufig von langjährigen inneren Kämpfen zwischen Abhängigkeit und Selbstbestimmung geprägt. Das gilt anfänglich innerhalb der Familie, dann in Beziehungen zu Partnern und im öffentlich-gesellschaftlichen Leben. Meistens wird schon sehr früh Verantwortung übernommen und/oder es besteht eine verwobene Mutter-Tochter-Beziehung, die sich darin zeigt, allen Anforderungen exakt zu genügen. Unter großer Anstrengung versuchen Bulimikerinnen eine brave Tochter für die Eltern, eine attraktive Frau für den Partner und eine verlässliche Kraft im Berufsleben zu sein. Die zwangsläufig entstehenden Rollenkonflikte werden nach innen mit dem eigenen Körper ausgetragen. So können Ess-Brech-Anfälle als sprachloser Protest gegen überhöhte, oft nicht zu vereinbarende Anforderungen verstanden werden. Statt Ängste und Ärger offen auszusprechen, werden sie aggressiv und selbstschädigend mit dem eigenen Körper ausgemacht.
Den Teufelskreis durchbrechen
Die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist die Bereitschaft der Betroffenen, Hilfe anzunehmen. Häufig können Zyklusstörungen oder das völlige Ausbleiben der Regelblutung der Grund dafür sein, den Frauenarzt aufzusuchen. Wenn die Patientin sich öffnet und ein Vertrauensverhältnis entsteht, ist der erste und damit wichtigste Schritt zu einer angemessenen Behandlung getan.
Obwohl bei der Essstörungssymptomatik bestimmte Anteile typischen Suchtverhaltens zu finden sind, können in der Beratung und Behandlung nicht automatisch Suchtkonzepte übernommen werden. Ein wesentlicher Unterschied zu Tablettensucht, Alkoholismus oder Drogenabhängigkeit besteht darin, dass es keine Abstinenzregel gibt. Schließlich ist es nicht möglich, auf die Nahrungsaufnahme zu verzichten. Meistens brauchen die Betroffenen eine Einzel-, Gruppen-, Familien- oder Paartherapie. Die Betroffene sollte sich selbst für den Therapeuten und die angewandte Methode entscheiden. Die Krankenkassen bieten die Möglichkeit, mit verschiedenen Therapeutinnen und Therapeuten zu sprechen, bevor die Behandlung beginnt. Unter www.bulimie.de werden Kontaktadressen angeboten, an die sich Betroffene wenden können.
Zahlen 600.000 bis 800.000 Frauen - entsprechend 3 bis 5 Prozent der weiblichen Bevölkerung - leiden an Bulimia nervosa; die Dunkelziffer liegt weit höher.
Um der Bulimie frühzeitig und wirksam zu begegnen, müssen die
Betroffenen lernen, den eigenen Bedürfnissen nachzugeben und diese
angemessen zu befriedigen. Die Hilfestellung aus dem persönlichen Umfeld
sowie ärztlicher und psychotherapeutischer Beistand führen zu einer
positiven Änderung des Lebensgefühls und zur Akzeptanz des eigenen
Körpers. Der Weg aus der Bulimie erfordert Geduld. Die Betroffenen
müssen Rückschläge hinnehmen und zu einem konsequenten Bemühen gegen
die Krankheit ermuntert werden.
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