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Den genetischen Ursachen auf der Spur

09.09.2002  00:00 Uhr
Lippen-Kiefer-Gaumenspalte

Den genetischen Ursachen auf der Spur

von Christina Hohmann, Eschborn

Hasenscharte und Wolfsrachen – die umgangssprachlichen Bezeichnungen für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten klingen nicht eben freundlich. Die genetischen Ursachen der Anomalien, die zu den häufigsten angeborenen Defekten zählen, sind bislang weitgehend unklar. Nun entdeckten amerikanische Forscher ein Gen, das zumindest für einen Teil der Fälle verantwortlich ist.

Das Gesicht entsteht sehr früh in der Embryonalentwicklung. Bereits in der 8. Schwangerschaftswoche hat der Embryo ein erkennbares Gesicht mit Nase und Lippen. Zu diesem Zeitpunkt misst er vom Kopf bis zum Rumpf nur etwa 28 mm. Der Gaumen wird am Ende der 7. Schwangerschaftswoche gebildet und entsteht aus Teilen des Oberkiefers, die aufeinander zu wachsen und schließlich in der Mitte verschmelzen. Wenn dieses Verwachsen unvollständig bleibt, kommt es zur Spaltbildung. Diese Anomalien sind nach angeborenen Herzfehlern einer der häufigsten Geburtsfehler überhaupt: In Deutschland treten sie bei einem von 500 Säuglingen auf – jedes Jahr kommen etwa 1500 Säuglinge mit diesen Fehlbildungen zur Welt. Amerikanische Quellen sprechen von einer Inzidenz von 1:700.

Unterschiedliche Ausprägungen

Die Fehlbildungen können verschieden stark ausgeprägt sein und entweder die Lippen, den Kiefer oder den Gaumen betreffen. Milde Formen sind kleine Defekte der Oberlippe, so genannte Lippenkerben, oder ein gespaltenes Gaumenzäpfchen. Die Defekte können aber auch in Kombination auftreten und von den Lippen an bis in den Rachenraum ziehen. Die häufigste Form ist die Lippen-Gaumenspalte, sie macht etwa 50 Prozent aller Fälle aus. Bei 30 Prozent der Betroffenen ist allein der Gaumen und bei etwa 20 Prozent sind die Lippen fehlgebildet. Die einzelnen Formen treten entweder nur auf der rechten oder der linken Seite (unilateral) oder beidseitig (bilateral) auf. Eine beidseitige Lippen-Kiefer-Gaumenspalte wird umgangssprachlich auch als Wolfsrachen bezeichnet.

Schwierig zu identifizieren sind submuköse Spalten, da bei diesen die Fehlbildungen unter einer intakten Schleimhaut verborgen liegen. Wenn das Kind aber Schwierigkeiten beim Sprechen hat, müssen auch diese Defekte korrigiert werden.

Spaltenbildung können auch im Rahmen eines Syndroms auftreten, also zu einem Muster von Anomalien gehören, die alle ursächlich zusammenhängen. So gehören zum erblichen Van-der-Woude-Syndrom neben Lippen- oder Gaumenspalten auch weitere Symptome wie deutliche Gruben in der Unterlippe und fehlende Zähne. Seltener treten Anomalien des Gehirns oder der Extremitäten auf. Bei etwa 1 bis 2 Prozent aller Patienten mit Lippen-Gaumenspalte liegt dieses Syndrom vor.

 

Anatomie des Gaumens Der Gaumen, auch Palatum genannt, bildet die Decke der Mundhöhle. Er ist in zwei Regionen gegliedert: Die vorderen zwei Drittel des Gaumens nimmt der knöcherne und unbewegliche so genannte harte Gaumen (Palatum durum) ein. Er umfasst verschiedene Knochen, unter anderem den Oberkieferknochen und das Gaumenbein. Das hintere Drittel bildet der muskulöse und bewegliche weiche Gaumen (Palatum molle), der beim Schlucken die Mundhöhle gegen die Nasenhöhle abschließt. Er bildet die beiden Gaumensegel, die im Gaumenzäpfchen (Uvula) enden. Der gesamte Gaumen ist mit Mundschleimhaut überzogen.

 

Komplikationen

Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind nicht nur entstellend und dadurch für die Betroffenen äußerst belastend, sie erschweren auch das Trinken und Atmen, da der Mund- vom Nasenraum nur unvollständig getrennt ist. Daher sollte in schweren Fällen hier schon früh eingegriffen werden, um dem Säugling eine normale Nahrungsaufnahme zu ermöglichen.

Je nach Ausprägung des Defekts können weitere Komplikationen auftreten. Die betroffenen Kinder sind anfälliger für Mittelohrentzündungen, da das Organ auf Grund der unterentwickelten Gaumenmuskulatur schlecht belüftet wird. Schwerhörigkeit ist eine mögliche Folge. Weiterhin können die Mimik und Aussprache gestört sein, typisch ist ein Näseln der Betroffenen.

Ursache unklar

Die Ursachen für Lippen-Kiefer-Gaumenspalten sind noch nicht vollständig geklärt. Neben genetischen scheinen auch andere Faktoren wie Sauerstoffmangel, Vitaminmangel, Überdosierungen von Vitamin A und E, starkes Rauchen und Trinken während der Schwangerschaft - besonders während der ersten Wochen - eine Rolle zu spielen. So zeigen einige Studien, dass das Risiko ein Kind mit Spaltenbildung zu bekommen, bei Raucherinnen um den Faktor 1,5 gegenüber Nichtraucherinnen erhöht ist. Auch der Kontakt mit Mutagenen in der Schwangerschaft scheinen ein Risikofaktor zu sein.

Etwa 15 Prozent der Lippen-Kiefer-Gaumenspalten treten in Familien auf, in denen bereits in der Vergangenheit solche Fehlbildungen vorkamen. Neue Untersuchungen zeigen, dass in einigen Familien ein einziges verändertes Gen für die Defekte verantwortlich zu sein scheint. Die Mutationen treten in den einzelnen Familien allerdings in unterschiedlichen Genen auf, die aber alle an der Gesichtsentwicklung beteiligt sind. In anderen Familien ist der Defekt vermutlich multifaktoriell, geht also auf Mutationen in mehreren Genen zurück.

Zumindest für einen Teil der Spaltenbildungen, nämlich für das Van-der-Woude-Syndrom, konnte nun das verantwortliche Gen gefunden werden. Die Erkrankung wird autosomal dominant vererbt: Eine einzige defekte Genkopie – entweder von der Mutter oder vom Vater geerbt – führt zu den Fehlbildungen. Das identifizierte Gen codiert für das Protein Interferon regulatory factor 6 (IRF6), einen Transkriptionsfaktor, wie Forscher der University of Iowa in einer Vorab-Online-Veröffentlichung der Fachzeitschrift Nature Genetics berichten. Trankriptionsfaktoren regulieren die Expression von Genen und steuern somit wann ein bestimmtes Protein hergestellt wird und wieviel Protein entsteht. IRF6 gehört zu einer Familie von neun Transkriptionsfaktoren, die die Expression von Interferon-a und -b während einer Virusinfektion steuern. Die genaue Funktion von IRF6 ist allerdings unbekannt. Anscheinend ist das Protein an der Entwicklung des Gesichtes beteiligt.

Auf die Spur des Transkriptionsfaktors brachte die Forscher ein Zwillingspärchen aus Brasilien: Eines der Kinder zeigte eine Lippen-Gaumenspalte sowie weitere für das Van-der-Woude-Syndrom typische Symptome. Der andere Zwilling hatte keinerlei Fehlbildungen. Genetische Untersuchungen ergaben, dass die beiden Zwillinge eineiig, also genetisch identisch sind. Die Wissenschaftler nahmen, daher an, dass eine spontane Mutation auftrat, nachdem sich das Ei geteilt hatte. „Dies würde bedeuten, dass die Zwillinge überall identisch wären, mit Ausnahme dieser einen Mutation“, erklärt Dr. Jeff Murray.

Die Wissenschaftler fanden eine Veränderung im Gen für IRF6, das sich auf dem Chromosom 1 befindet, und zwar in der Region, in der man die verantwortliche Mutation schon längere Zeit vermutet hatte. Weitere Untersuchungen ergaben, dass in 45 Familien mit Van-der-Woude-Syndrom ebenfalls das IRF6-Gen mutiert war. Außerdem zeigten auch 13 Familien mit einem ähnlichen Syndrom, dem Popliteal Pterygium Syndrom, Mutationen in diesem Gen. Bei dieser Krankheit treten neben Lippen-Gaumenspalten auch Anomalien der Haut und der Genitalien auf. Ein Gen, dessen Veränderungen zu Lippen-Gaumenspalten führen kann, ist somit identifiziert. Bereits im September vergangenen Jahres berichteten Philip Stanier und seine Kollegen vom Imperial College in London ebenfalls in der Online-Ausgabe von Nature Genetics von der Entdeckung einer Genmutation auf dem X-Chromosom, das erbliche Form von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten hervorruft. Fast gleichzeitig identifizierten Forscher um Richard Spritz von der University of Colorado in Denver ein weiteres Gen, das das Risiko für Fehlbildungen erhöht.

Langwierige Therapie

Die Behandlung von Lippen-Kiefer-Gaumenspalten ist in den Industrienationen äußerst erfolgreich, fordert aber den Betroffenen sowie ihren Angehörigen eine enorme Geduld und Aufopferung ab. Bis zum Schuleintritt sollte die Fehlbildung nicht mehr zu erkennen sein und auch die Sprachentwicklung sowie die Kau- und Hörfunktion sollten normal sein. Für gute Ergebnisse der Behandlung ist ein enge Zusammenarbeit verschiedener Spezialisten wie Gesichtschirurgen, Kieferorthopäden, Zahnärzten, Hals-Nasen-Ohren-Ärzten sowie Logopäden und Psychologen nötig.

Je nach Ausprägung des Defekts fällt die Therapie unterschiedlich aus. In schweren Fällen wird dem Säugling bereits in den ersten Tagen eine Gaumenplatte angepasst. Sie ermöglicht dem Kind normales Trinken und Atmen, da sie den Mund- vom Nasenraum trennt. Sie hilft außerdem dabei, dass sich der Gaumen und die Zungenlage richtig entwickeln. In mehreren Schritten wird dann die Spalte geschlossen. Die erste Operation nach 3 bis 4 Lebensmonaten korrigiert die Lippen. Nach 6 bis 8 Monaten schließen Chirurgen die Spalte im weichen Gaumen. Fehlbildungen des harten Gaumens werden nach circa 10 bis 12 Monaten korrigiert. Zum Teil sind kosmetische Operationen an der Nase noch vor Eintritt in die Schule nötig. Weitere korrektive Eingriffe aus ästhetischen Gründen oder zur Verbesserung der Sprache können noch bis ins Erwachsenenalter nötig sein.

Auf Grund der Komplikationen sollten Patienten mit Lippen-Kiefer-Gaumenspalte regelmäßig das Gehör testen lassen. Zahnärzte oder Kieferchirurgen korrigieren Fehlstellungen der Zähne, Logopäden trainieren die richtige Aussprache. Zum Teil sind Psychologen nötig, da sowohl die entstellenden Fehlbildungen als auch die langwierige Behandlung äußerst belastend sein können. Top

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