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Gegen die Krankheit anlaufen

02.08.2004  00:00 Uhr

Diabetes und Sport

Gegen die Krankheit anlaufen

von Conny Becker, Berlin

Sport ist bei Diabetes kein Tabu, er kann vielmehr den Erkrankten helfen. Denn Menschen mit Typ-1-Diabetes schützt die körperliche Aktivität vor Folgekrankheiten, bei Typ-2-Diabetikern kann sie die Stoffwechselentgleisung sogar wieder aufheben. Dazu müssen die Patienten jedoch einige spezielle Regeln beachten.

Die Beine werden schwach, der Atem scheint nicht mehr nachzukommen, ihr Blutzucker liegt bei 342 mg/dl. Dennoch läuft hier alles planmäßig: Die 35-jährige Hobbyläuferin mit Diabetes mellitus Typ 1 nimmt an ihrem dritten Marathon teil und erreicht in 4 Stunden und 40 Minuten erschöpft, aber glücklich das Ziel.

Dies Beispiel vom Berlin-Marathon 2002 zeigt das auf, was Sport mit Diabetes ausmacht – der individuelle Plan. Aus Angst vor einer Hypoglykämie wählte die Läuferin bewusst einen hohen Glucosezielbereich, wohingegen ihre Sportkollegen mit mittleren Werten von 90 bis 290 mg/dl liefen. Das Beispiel zeigt aber auch noch etwas anderes – Leistungssport und Diabetes schließen sich nicht aus, was auch Olympiasportler wie Sir Steven Redgrave belegen, der als britischer Ruderer 2000 in Sydney zum fünften Mal in Folge Olympisches Gold gewann. Auch Ulrich Viefers, sein Kollege aus dem deutschen Achter, hat Diabetes. In Athen sitzt nun der Ruderer Chris Jarvis, der seit zehn Jahren mit die Diagnose Diabetes Sport treibt, im kanadischen Achter.

Hypoglykämie vermeiden

Treiben Gesunde Sport, ändern sich bei ihnen viele Stoffwechselprozesse. Die Bauchspeicheldrüse gibt weniger Insulin in die Blutbahn, wodurch die Leber mehr Glucose freisetzt und deren Produktion steigert. Obwohl Insulin auch für die Glucoseaufnahme in die Muskelzellen benötigt wird, nehmen diese den Energielieferanten bei Sport vermehrt auf. Denn bei körperlicher Aktivität ist deren Insulinempfindlichkeit gesteigert. Darüber hinaus setzt der Körper die Stresshormone Adrenalin und Cortison frei, die ihrerseits den Blutzuckerspiegel erhöhen.

Ein insulinpflichtiger Diabetiker muss daher wissen, dass sein Blutzucker bei Muskelarbeit absinkt, was durch die verstärkte Durchblutung des Unterhautfettgewebes und die somit schnellere Insulinwirkung zusätzlich gefördert wird. Daher gilt es, den Blutzucker zu überwachen. Liegt er unter 100 mg/dl, sollte der Betreffende kein Sport treiben, sondern zusätzliche Broteinheiten (BE) zu sich nehmen. Dafür empfehlen sich schnell wirkende Kohlenhydrate, wobei besonders während des Sports flüssige BE-Lieferanten wie Säfte, gezuckerter Tee oder Cola trockenen Traubenzuckerplättchen vorzuziehen sind. Zu empfehlen sind zudem flüssige Kohlenhydrat-haltige Gele wie Jubin® mit 2,6 BE oder Carrero® mit einer BE, die in Tube beziehungsweise Beutel verpackt in jede Trikottasche passen. Lag bereits eine Hypoglykämie vor (unter 50 mg/dl), sollte der Sportler darüber hinaus lang wirkende Kohlenhydrate zu sich nehmen, um den Blutzucker in den gewünschten Bereich von 150 bis 180 mg/dl zu bringen.

Zu beachten ist, dass bei körperlicher Aktivität Adrenalin die Symptome einer Unterzuckerung (wie Tachykardie, Unruhe, Zittern oder Schweißausbruch) überdecken kann, im Zweifelsfall gilt daher: Lieber eine „Not-BE“ zu viel. Denn diese wird auch nach dem Training noch gebraucht. Dann setzt nämlich der so genannte Auffülleffekt ein, das heißt, Leber und Muskulatur entziehen dem Blut so lange Glucose, bis ihre Glykogenspeicher wieder aufgefüllt sind. Der Muskelauffülleffekt ist schon nach mäßigem Training acht bis zwölf Stunden lang zu messen, kann nach extremen Ausdauerbelastungen mehrere Tage dauern und somit unberücksichtigt eine Hypoglykämie verursachen. Daher sind auch nach dem Sport weitere Blutzuckerkontrollen wichtig. Bei schwerer Unterzuckerung schließlich müssen vorher informierte Sportkollegen oder Betreuer dem Betroffenen Glukagon spritzen, so dass die Leber Glucose freisetzt. Sind deren Glykogenspeicher bereits erschöpft, muss der Notarzt Glucose als intravenöse Infusion geben.

Erst Aceton gilt als Stoppsignal

Sind Typ-1-Diabetiker abgesehen von ihrem Insulinmangel gesund, können sie jeden Sport treiben. Wichtig ist jedoch, vor, während (bei einer Bewegung von mehr als 30 Minuten) und nach dem Sport den Blutzucker zu messen. Dieser sollte vor dem Training bei über 150 mg/dl liegen, einen „zu hohen“ Blutzucker, wie früher häufig für Werte ab 250 mg/dl postuliert, gibt es nach Ansicht von Diabetologen nicht. Liegt der Blutglucosespiegel über 250 mg/dl, müssen die Sportwilligen vielmehr einen Acetontest machen. Befinden sich Ketonkörper im Urin, ist das ein Zeichen für einen absoluten Insulinmangel. In dieser Situation dürfen Diabetiker auf keinen Fall irgendeine körperliche Aktivität beginnen. Denn die Muskelarbeit beschleunigt die Entwicklung einer Ketoacidose, die unbehandelt zum Tode führen kann.

Grund für diese Stoffwechselentgleisung ist die fehlende Insulinwirkung: Weder bremst es in der Leber die Glucoseausschüttung noch sorgt das Hormon an der Muskulatur dafür, dass Glucose aufgenommen wird. Die Folge ist ein massiv erhöhter Blutzuckerspiegel. Da die Nierenschwelle überschritten ist, werden Glucose und Elektrolyte zusammen mit großen Mengen an Wasser ausgeschieden, eine Exsikkose droht. Zudem ist die Lipolyse bei absolutem Insulinmangel gesteigert, so dass sich freie Fettsäuren im Blut mehren, die zu den „Ketonkörpern“ Acetacetat, b-Hydroxybutyrat und Aceton metabolisiert werden. Diese übersäuern das Blut und lassen so den Stoffwechsel entgleisen.

Notfall-Maßnahmen bestehen aus Insulininjektionen alle ein bis zwei Stunden, bis der Blutzucker auf unter 200 mg/dl abgesunken ist, einer Flüssigkeitszufuhr von mindestens einem Liter pro Stunde und einer engmaschigen Kontrolle von Blutzucker und Aceton. Nur für ansonsten gesunde und ausführlich geschulte Diabetiker kommt eine Eigentherapie infrage. Vor allem bei diabetischen Folgeerkrankungen müssen die Betroffenen von einem Notarzt beziehungsweise im Krankenhaus behandelt werden.

Ausgeklügelte Insulinkorrektur

Allgemeingültige Ratschläge zur Insulinanpassung gibt es nicht, da diese vom Trainingszustand des Diabetikers, seinem Insulinschema und aktuellem Blutzucker, der Art, Dauer und Intensität der Bewegung sowie der Tageszeit abhängt. So ist etwa die Insulinantwort morgens stärker als abends, die gleiche Tätigkeit hat somit unterschiedliche Auswirkungen auf den Blutzuckerspiegel. Zu berücksichtigen ist auch, in welcher Phase der Insulinwirkung man sich bewegt. So setzt die Wirkung von Normalinsulin nach rund 15 bis 20 Minuten ein und erreicht nach circa zwei bis drei Stunden ihr Maximum. Dagegen ist bei schnell wirksamen Insulinen das Maximum schon nach 30 bis 60 Minuten erreicht und damit die größte Gefahr eine Hypoglykämie bei gleichzeitigem Sport. Kombinationsinsuline wirken in der Regel mittags am stärksten.

Der Insulinspiegel sollte schon zu Beginn des Sports abgesenkt sein. Dazu kann der Betreffende die Basalinsulingabe einige Zeit vor der Muskelarbeit reduzieren, weniger Insulin zur letzten Mahlzeit spritzen oder beide Varianten kombinieren. Um eine Unterzuckerung zu vermeiden, muss bei Sport direkt nach dem Essen auch der Spritz-Ess-Abstand verkürzt oder gestrichen werden. Denn bei Bewegung nimmt der Körper die Kohlenhydrate langsamer auf, das Insulin wirkt jedoch schneller. Auch ein Ess-Spritz-Abstand ist daher denkbar.

Bei kurzzeitigen Belastungen sollte ein Diabetiker eher zusätzliche BE zu sich nehmen und gegebenenfalls das Mahlzeiteninsulin reduzieren. Bei ganztägiger körperlicher Aktivität kann je nach Intensität sowohl das Basal- als auch das Mahlzeiteninsulin halbiert werden. Nicht zu vergessen ist auch der Muskelauffülleffekt nach dem Sport, so dass die Insulinzufuhr, auch das Verzögerungsinsulin zur Nacht reduziert bleiben sollte.

Dosisanpassungen können auch bei Sulfonylharnstoffderivaten wie Glibenclamid (Euglucon N®) Glimepirid (Amaryl®) oder bei Repaglinid (NovoNorm®) notwendig sein, da unter der Therapie bei sportlichen Aktivitäten eine Hypoglykämie droht. Dagegen muss ein Typ-2-Diabetiker seine Metformin- (Glucophage®) oder Acarbosedosis (Glucobay®) nicht reduzieren. Die häufig auftretenden Blähungen unter Acarbose können allerdings den Sportwillen erheblich beeinträchtigen. Zu Insulinsensensitizern wie Rosiglitazon (Avandia®) oder Pioglitazon (Actos®) liegen bislang keine Daten vor, die eine Therapieanpassung notwendig erscheinen lassen.

Typ-2-Diabetes besiegen

Menschen mit einer gestörten Glukosetoleranz können mit Präventionssport einem Diabetes vom Typ 2 entgegensteuern. So konnte die finnische Diabetes-Präventionsstudie zeigen, dass körperliche Aktivität und gesündere Ernährung nach vier Jahren das Risiko für einen manifesten Diabetes um 58 Prozent senkten. Doch auch Patienten mit Typ-2-Diabetes profitieren von körperlicher Bewegung und können damit ihre Therapie mit oralen Antidiabetika oder Insulin wieder überflüssig machen, da die Insulinempfindlichkeit gesteigert und die Hyperinsulinämie reduziert wird. Zudem senkt regelmäßiger Sport den Blutdruck sowie erhöhte Triglycerid- und Cholesterinwerte und somit das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen.

Das Klientel ist jedoch deutlich „sportresistenter“ als die zumeist jungen Typ-1-Diabetiker – schließlich resultiert ihre Stoffwechselerkrankung im Wesentlichen aus ihrem zu bewegungsarmen Lebensstil, der meist mit Übergewicht verbunden ist. Über Jahre gewachsene Gewohnheiten lassen sich nicht so einfach ablegen, weshalb Ärzte, Angehörige oder auch die Betroffenen selbst nicht zu schnell zu viel erwarten sollten. Doch nicht nur Sport ist Bewegung und so können häufigeres Treppensteigen, Einkaufen zu Fuß oder mit dem Fahrrad oder Spaziergänge, zum Beispiel in Diabetes-Sportgruppen ein Anfang sein.

Vor jeder sportlichen Aktivität sollte der Patient mit dem Arzt sprechen (das gilt auch für Menschen mit Typ-1-Diabetes) und seine Belastungsgrenzen festsetzen lassen. Zu einem Belastungs-EKG wird geraten, wenn der Betreffende älter als 35 Jahre ist, einen manifesten Diabetes länger als zehn Jahre hat oder bereits Folgekrankheiten bestehen.

Doch selbst diabetische Folgeerkrankungen schränken eine körperliche Betätigung nicht vollkommen ein. So können etwa im frühen, nicht-proliferativen Stadium der Retinopathie meist alle gewünschten Sportarten betrieben werden, abgesehen von großen körperlichen Anstrengungen. Diese müssen Diabetiker insbesondere bei einer fortgeschrittenen Retinopathie meiden, da starke Blutdruckanstiege (systolisch über 180 bis 200 mmHg, diastolisch über 100 mmHg) eine Netzhautblutung hervorrufen können. Langsames Schwimmen, Ergometertraining oder Spazierengehen sind aber weiterhin möglich, die Betreffenden sollten sich aber mit ihrem Arzt absprechen und sich halbjährlich von einem Augenarztuntersuchen lassen.

In ähnlicher Weise muss die Sportintensität auch bei diabetischer Nephropathie oder koronarer Herzerkrankung angepasst werden. Liegt eine periphere Neuropathie vor, bei der das Tast- und Schmerzempfinden gestört sind und der „diabetische Fuß“ als Komplikation auftreten kann, sollten die Patienten eine starke Belastung der Füße möglichst vermeiden. Als Sportarten bieten sich Schwimmen oder Radfahren an, da hier die Füße das eigene Körpergewicht nicht tragen müssen. Wichtig für diese Patientengruppe: Druckstellen in Schuhen vermeiden! Dazu gibt es entlastende Einlagen, industriell gefertigte Spezialschuhe oder orthopädische Maßschuhe. Laut der Empfehlung der Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenversicherer übernehmen diese die Kosten für maßangefertigte Schuhe bei entsprechender Diagnose. Der Eigenanteil des Patienten beträgt 76 Euro, bei Einlagen 10 Prozent vom Wert (mindestens 5, maximal 10 Euro), dazu kommt jeweils die Zuzahlung von 10 Euro, so der IKK-Bundesverband. In der Apotheke sollte man den Patienten zudem daran erinnern, etwa mithilfe eines Fußspiegels ihre Füße regelmäßig zu inspizieren.

Spezielle Hürden

Auch wenn Kinder mit Diabetes jeglichen Sport treiben können, muss der Arzt bedenken, dass sie in der Wachstumsphase einen erhöhten Energiebedarf haben, der durch den Sport noch gesteigert wird. Daher lohnt es sich in der Apotheke nachzufragen, ob die Ernährung entsprechend angepasst wurde.

Erwachsene müssen zudem beim Alkohol vorsichtig sein. Vor allem nach einer ganztägigen körperlichen Belastung, einem Umzugstag etwa, kann das abendliche Bier eine Hypoglykämie verursachen. Denn die Glucoseproduktion in der Leber ist zugunsten des ebenfalls NAD+-abhängigen Alkoholabbaus zurückgefahren.

Auch Außentemperaturen beeinflussen die Therapieanpassung. So regt Sommer- oder auch Saunahitze die Durchblutung des Unterhautfettgewebes an, Insulin wird schneller verteilt und wirkt rascher. Bei niedrigen Temperaturen dagegen, benötigt der Körper mehr Glucose, um die Körpertemperatur aufrecht zu erhalten. Treibt ein Diabetiker Wintersport, muss er darauf achten, dass das Insulin nicht gefriert und auch das Blutzuckermessgerät sowie die Teststreifen den vom Hersteller empfohlenen Temperaturbereich nicht unterschreiten. Wichtig bei der Messung: Die Hände müssen gut durchblutet sein.

 

Wie und wo anfangen? „Wichtig ist es, den Patienten zu fragen, ob er sich regelmäßig bewegt, ob er schon einmal über Sport nachgedacht hat“, rät die Berliner Diabetologin Ulrike Thurm im Gespräch mit der PZ. Hier seien auch Apotheker gefragt, da sie häufigen Kontakt zu den Diabetikern haben, so die Vorsitzende der Internationalen Vereinigung Diabetischer Sportler (IDAA) – ein Verein, der Diabetiker über Sport informiert, damit diese die Disziplin ihrer Wahl betreiben können. Interessierte Patienten müssten sich von ihrem Arzt auf ihre Sporttauglichkeit untersuchen lassen und sollten sich entsprechenden Sportgruppen anschließen. „Informationen findet man auch über die IDS, die Initiativgruppe Diabetes und Sport, wenn man etwa wissen möchte, welche Sportgruppen in welchem Bundesland existieren. Es gibt aber auch sehr viele Diabeteszentren und Schwerpunktpraxen, die im Rahmen der Schulung Sport anbieten“, sagte Thurm. Neben der Schulung sei es gerade zu Beginn wichtig, alle Details ausführlich zu dokumentieren. „Welche Bewegung wann und wie lange und auch der Gegenwind beim Fahrradfahren sind Informationen für ein Sporttagebuch“. Hier gehören neben den Blutzuckerwerten auch eventuelle Stoffwechseladaptionen hinein, das heißt, die Höhe der Kohlenhydratzufuhr und der Insulindosis.

Thurm ist Autorin des Buchs Diabetes- und Sportfibel, das im Kirchheim-Verlag, Mainz, erschienen ist und auch von der Deutschen Diabetischen Gesellschaft empfohlen wird. Es wendet sich sowohl an Menschen mit Diabetes, die mit dem Sport beginnen wollen, als auch an bereits sportlich Aktive sowie Therapeuten, die Diabetiker beraten und schulen. Weitere nützliche Informationen bieten die IDAA (www.idaa.de), die IDS (www.diabetes-sport.de) oder der Deutsche Sportbund (www.sportprogesundheit.de).

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