Zwischen Arznei- und Lebensmittel |
24.05.2004 00:00 Uhr |
Probiotische Joghurts, Omega-3-Eier, Kapseln, gefüllt mit Soja- oder Rotkleeextrakt – an der Grenze zwischen Arznei- und Lebensmittel haben sich Functional Food und Nutraceuticals angesiedelt. Dass nicht jedes Produkt hält, was es verspricht, stellten Ernährungsexperten in München anhand von Studien klar.
Früher kam es dem Verbraucher darauf an, mit Nährstoffen wie Proteinen, Kohlehydraten und Fetten gut versorgt zu sein und wenig Rückstände mit der Nahrung aufzunehmen. Jetzt wird erwartet, dass das Essen auch Krankheiten verhindert. Phytoestrogene in Soja und Flavonoide in grünem Tee sollen vor Krebs schützen, Resveratrol im Rotwein vor Herzinfarkt. Funktionelle Lebensmittel und Nahrungsergänzungsmittel waren deshalb auch ein Thema für die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin, an deren Jahrestagung Anfang Mai in München auch die Deutsche Diabetesgesellschaft, die Deutsche Krebsgesellschaft sowie die Bayerische Landesapothekerkammer als Kooperationspartner mitwirkten.
Phytoestrogen statt Estrogen?
Seit die postmenopausale Hormontherapie zunehmend in die Kritik geraten ist, richten sich besondere Erwartungen auf Phytoestrogene, die Professor Dr. Sabine Kulling vom Institut für Lebensmittelchemie in Hamburg anhand aktueller Studien bewertete. Phytoestrogene ähneln in ihrer Struktur dem 17b-Estradiol. Sie binden daher gut an den Estrogenrezeptor, entfalten dort jedoch eine um zwei bis vier Zehnerpotenzen schwächere Wirkung als das weibliche Sexualhormon. Zu den Phytoestrogenen zählen Coumestane, Isoflavone und Lignane, wobei bisher nur die Isoflavone gut untersucht seien, erläuterte die Lebensmittelchemikerin. Soja enthält die Isoflavone Daidzein, Genistein und Glycitein, Rotklee die entsprechenden Methylderivate.
Sowohl Soja- als auch Rotkleeextrakte werden mit der Aussage beworben, vor Krebs und Herz-Kreislauferkrankungen zu schützen. Ein epidemiologischer Vergleich zeige zwar, dass in asiatischen Ländern, in denen Sojaprodukte regelmäßig verzehrt werden, wesentlich weniger Frauen an Brustkrebs erkranken als in westlichen Ländern. In prospektiven Studien konnte ein Zusammenhang mit Phytoestrogenen jedoch bisher nicht bestätigt werden, erklärte Kulling.
Erhielten in Tierexperimenten trächtige Ratten mit dem Futter Genistein, entwickelten ihre Jungen seltener Brusttumoren als Kontrolltiere. Dies beobachteten Forscher ebenfalls bei Jungtieren, die vor der Pubertät mit Phytoestrogenen gefüttert wurden. Waren die Tiere jedoch bereits erwachsen, trat kein Schutzeffekt auf. Laut Referentin führt die estrogene Wirkung des Isoflavons vermutlich zu einer frühen Differenzierung des Brustgewebes, das dadurch weniger anfällig für Kanzerogene ist.
Noch ein anderes Bild zeigte sich an menschlichen Brustkrebszellen, deren Wachstum in vitro sowohl durch Genistein als auch durch einen Sojavollextrakt beschleunigt wurde. Isoflavone können somit vor Tumoren schützen, ohne Wirkung oder sogar schädlich sein, je nachdem, wann sie auf welches Gewebe einwirken. Aus diesen Gründen gebe es derzeit keine wissenschaftliche Basis, die Einnahme von Phytoestrogenen zu empfehlen, folgerte die Wissenschaftlerin.
Pro’s und Pre’s
Mit 30 Prozent machen Pro- und Prebiotika einen gewichtigen Anteil bei funktionellen Lebens- und Nahrungsergänzungsmitteln aus, deren Sinn und Nutzen der Ernährungswissenschaftler Professor Dr. Peter Stehle aus Bonn beleuchtete. Sowohl Pro- als auch Prebiotika zielen darauf ab, die Darmflora zu verbessern, jedoch auf unterschiedlichem Weg.
Probiotische Kulturen sind definierte lebende Mikroorganismen, beispielsweise Lactobacillus- und Bifidusstämme, die die natürliche Darmflora unterstützen sollen. Von herkömmlichen Milchsäurebakterien unterscheiden sie sich dadurch, dass sie bei In-vitro-Versuchen widerstandsfähiger sind und an den Enterozyten, den Saumzellen der Dünndarmschleimhaut, besser haften. Um eine physiologische Wirkung zu erzielen, sei bei Probiotika jedoch eine Dosis von 108-10 cfu/d (colony forming units per day) erforderlich, die mit Functional Food nicht und mit Nahrungsergänzungsmitteln nur selten erreicht werden könne, unterstrich Stehle.
Prebiotika bilden als nicht verdauliche Oligosaccharide das geeignete Substrat für Darmbakterien, in erster Linie den Bifidusstämmen. Die aus drei bis zehn Zuckermolekülen bestehenden löslichen Ballaststoffe gelangen unverdaut in den Dickdarm, wo sie von Mikroorganismen zu kurzkettigen Fettsäuren verstoffwechselt werden. Damit sinkt der pH-Wert im Dickdarm, wodurch die Keimdichte von potenziell schädigenden Keimen wie Clostridien oder Fusobakterien reduziert wird. Prebiotika bilden somit zum einen die Nahrungsgrundlage für die Darmflora und tragen zum anderen zur Stabilität des Milieus bei.
Die löslichen Ballaststoffe sind Bestandteil von Erfrischungsgetränken, Milchprodukten, Backwaren, Müsli, Süßwaren und Brotaufstrichen. Werden Probiotika mit Prebiotika zu Synbiotika ergänzt, erhalten die Mikroorganismen gleich das passende Substrat mitgeliefert und können besser im Darm wachsen. Für Prebiotika empfahl Stehle eine Tagesmenge von fünf bis fünfzehn Gramm.
Schutz für den Darm
Dass Pro- und Prebiotika Häufigkeit und Dauer von Durchfallerkrankungen verringern, sei durch mehrere Studien belegt, führte der Ernährungswissenschaftler aus. Auch die Darmmotilität könnten sie verbessern und manche Formen entzündlicher Darmerkrankungen, wie die Pouchitis, günstig beeinflussen. Bezüglich der Prävention sei die Datenlage noch unklar, erklärte Stehle. Hier müsse noch viel Forschungsarbeit geleistet werden. So gebe es zur Darmkrebsprävention bisher nur wenige Interventionsstudien, die noch keine Bewertung zuließen. Denkbar sei allerdings ein präventiver Effekt auf Grund einer verbesserten Ausscheidung mutagener und genotoxischer Substanzen über Urin und Faeces. Kürzlich habe zudem eine finnische Studie ergeben, dass eine Probiotikagabe vor und nach der Geburt das Risiko für eine atopische Dermatitis des Babys verringern kann. Dieser Effekt müsse jedoch noch weiter untersucht werden, schränkte der Wissenschaftler ein.
Ein recht bizarres Szenario entwickelte Stehle mit Blick auf die Zukunft. Da jeder Mensch seine persönliche Darmflora habe, die anhand mikrobiologischer Fingerprints dargestellt werden kann, sei es möglich, ein jeweils passendes Probiotikum zu entwickeln. Die Zukunft gehöre also dem individuellen Designer-Probiotikum.
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