Ursache für Vergreisung entdeckt |
28.04.2003 00:00 Uhr |
Obwohl noch Kinder, ähneln Patienten mit infantiler Progerie alten Menschen. Die Ursache der rasanten Vergreisung ist nun identifiziert: ein winziger Genaustausch im Protein für ein stützendes Kernprotein.
Die infantile Progerie ist eine seltene und seltsame Krankheit. Erst wenige Jahre sind die jungen Patienten alt und sehen doch schon aus wie Greise. Viel zu groß sitzt der Kopf auf dem zerbrechlich kleinen Körper. Blau scheinen die pochenden Adern durch die Haut, die so dünn ist wie Pergamentpapier. Nur wenige Haare sprießen und bedecken die Kopfhaut.
Die Alterungserscheinungen sind jedoch nicht nur äußerlich. Auch die inneren Organe sind davon betroffen. So leiden die Kinder schon früh an typischen Erkrankungen des Alters wie Arteriosklerose und verengten Herzkranzgefäßen. Denn ihr Körper kann sich nicht regenerieren, altert deshalb fünf- bis zehnmal schneller als der von Gesunden. Daher ist den Kindern nur ein kurzes Leben vergönnt. Durchschnittlich mit 13 Jahren sterben sie; meist an Herzversagen oder Hirnschlag.
Bislang gab es keine Hinweise auf die Ursachen dieser seltsamen Krankheit, obwohl Wissenschaftler weltweit intensiv danach suchten. Jetzt allerdings machten zwei voneinander unabhängige Arbeitsgruppen eine entscheidende Entdeckung. Sie identifizierten auf Chromosom 1 ein Gen, das beim infantilen Hutchinson-Gilford-Progerie-Syndrom (HGPS) eine wichtige – wenn nicht sogar die entscheidende – Rolle spielt.
Wissenschaftler um Annachiara De Sandre-Giovannoli von der Université de la Mediterranee in Marseille (Science, Online-Vorabveröffentlichung vom 17. April 2003) und ein Team um Maria Eriksson vom National Genome Research Institute in Bethesda (Nature, Online-Vorabveröffentlichung vom 24. April 2003) entdeckten bei den erkrankten Kindern eine winzige Genveränderung. Sie betrifft das Gen LMNA, aus dem gleich zwei Proteine hervorgehen: Lamin A und Lamin C.
Spontane Veränderungen im Erbgut
Während die französische Arbeitsgruppe bei zwei ihrer kleinen Patienten an dieser Stelle eine Veränderung im Genom entdeckte, wies das amerikanische Team dieselbe Veränderung bei 18 von 23 untersuchten Kindern nach. Bei allen Betroffenen war an einer Stelle des Lamin-Gens lediglich eine einzige Base ausgetauscht. An Position 1824 fanden die Forscher hier die Base Thymin statt Cytosin. Besonders überraschte die Wissenschaftler, dass die Mutation offensichtlich bei jedem der Kinder spontan aufgetreten war. Denn im elterlichen Material fanden sie den charakteristischen Basenaustausch nicht. Vererbung war damit ausgeschlossen. Allerdings gehört die betroffene Sequenz zu einer für Mutationen sehr anfälligen Stelle im Genom.
Zwar hat der Basenaustausch keinen direkten Effekt auf die einzubauende Aminosäure, aber beim Zurechtschneiden der abgelesenen Kopiervorlage – dem Spleißen der Boten-RNA – tritt ein Fehler auf. Denn durch die Mutation wird eine vorher verborgene Spleißstelle aktiv, die normalerweise nicht ins Geschehen eingreift. Diese mysteriöse Schnittstelle liegt kurz hinter der Stoppstelle für eines der beiden Lamine: des kürzeren Lamin C, das dadurch von der Veränderung verschont bleibt. Dem längeren Lamin A werden durch die ungewöhnliche Spleißstelle jedoch 50 Aminosäuren abgeschnitten.
So klein die Ursache – ein einziger Basenaustausch – auch ist, so fatal ist ihre Wirkung. Das verstümmelte Lamin A Protein kann seine eigentliche Funktion, die Bildung eines Multiprotein-Komplexes in der inneren Kernmembran, nicht mehr wahrnehmen. Nur 10 bis 20 Prozent der untersuchten Blutzellen von Progerie-Kindern besitzen überhaupt Lamin A, während Lamin C in gewohnter Konzentration vorkommt.
Löchriger Zellkern
Dem Zellkern fehlt es ohne das stützende Lamin A an Stabilität und Struktur. Wie das amerikanische Team in Blutzellen von Progerie-Kindern beobachtete, verändert sich dadurch nicht nur Größe und Gestalt des Zellkerns. Es brechen regelrechte Löcher in der Kernmembran auf, durch die Teile des genetischen Materials austreten. Die Zellschaden ist so groß, dass sich die betroffenen Zellen nicht mehr richtig teilen können und schließlich absterben.
Dadurch kann sich das Gewebe der kleinen Patienten nicht ausreichend regenerieren und ihre Körper altern rasant. Bisher gibt es nichts, was die Kinder vor dem vorzeitigen Tod schützt. Keine Therapie hilft bei der erstmals von den britischen Ärzten Jonathan Hutchinson und Hastings Gilford beschriebenen vorzeitigen Vergreisung.
Bei Geburt des Kindes ahnt niemand etwas von seinem schweren Schicksal. Noch sieht der Säugling wie ein völlig gesundes Kind mit kleinen Fettpolstern an Armen und Beinen aus. Doch bereits im ersten Jahr treten kleine Besonderheiten auf. Die Haut beginnt, sehr trocken und schuppig zu werden und das Kindergesicht zeigt – zumindest für den Experten – typische Veränderungen. Im Alter von drei Jahren ist die Krankheit dann vollständig entwickelt und die Kinder ähneln immer mehr zerbrechlichen Greisen.
Wenn mit zunehmenden Alter Ablagerungen die Blutgefäße verstopfen, drohen den Kindern frühzeitig Hirn- oder Herzschlag. Auch die Entdeckung der genetischen Ursache wird daran in den nächsten Jahren noch nichts ändern. Nach Ansicht des französischen Forschers Nicolas Le´vy wird der Einsatz einer möglichen Therapie mindestens zehn Jahre auf sich warten lassen.
„Wir wissen noch nicht genug über die Funktion der Lamine, um bereits über eine Therapie nachzudenken“, bremst Le´vy allzu große Erwartungen. Trotzdem regt sich Hoffnung auf eine Behandlungsmöglichkeit. “Ich glaube, wir werden es in den nächsten zehn Jahren schaffen“, zeigt sich der Forscher zuversichtlich.
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