Neuroblastom-Screening durchgefallen |
22.04.2002 00:00 Uhr |
von Ulrike Wagner, Eschborn
Ein einfacher Windeltest sollte Tumoren des Nervengewebes bei Kindern frühzeitig identifizieren. Zwei große Studien haben jetzt gezeigt, dass der Test ungeeignet ist.
Die Idee war bestechend einfach. Ein simpler Teststreifen in der Windel sollte anzeigen, ob ein Kind am Neuroblastom erkrankt ist. Da der Tumor lange Zeit keine Beschwerden verursacht, ist eine frühe Diagnose anderweitig oft nicht möglich. Die Geschwulst wird zu spät entdeckt, und die Kinder sterben, weil sich bereits Metastasen gebildet haben.
Die Mehrheit der Neuroblastome bildet jedoch Stoffwechselprodukte, die frühzeitig im Urin der betroffenen Kinder nachgewiesen werden können. In Japan wird daher seit Jahren der Urin von Säuglingen im sechsten Lebensmonat auf diese Abbauprodukte hin untersucht. Ob dies tatsächlich sinnvoll ist, war bislang unklar. Anfang April haben die an einem deutschen Modellprojekt beteiligten Ärzte ihre Ergebnisse im New England Journal of Medicine (Band 346, Seite 1047) veröffentlicht, zeitgleich mit einer amerikanisch-kanadischen Arbeitsgruppe, die das Neuroblastom-Screening in Kanada testete (Seite 1041).
Die Ergebnisse beider Gruppen sind eindeutig. Ein solches Screening zur Früherkennung von Neuroblastomen ist nicht sinnvoll. Die Mediziner entdeckten bei mehr Kindern ein frühes Tumorstadium, aber weder die Sterblichkeit noch die Zahl der fortgeschrittenen Erkrankungen konnten durch die Früherkennungsmaßnahme gesenkt werden. Insgesamt identifizierten die Ärzte durch das Screening 149 Kinder mit Neuroblastomen, von denen drei starben. Hinzu kommen jedoch 55 Kinder mit negativem Test-Ergebnis, die anschließend trotzdem an einem Neuroblastom erkrankten; 14 von ihnen starben.
Schlimmer noch: Offensichtlich wurden durch die Testbefunde mehr Kinder therapiert als nötig. In der Gruppe, die an dem Test teilgenommen hatte, wurden deutlich mehr Neuroblastome entdeckt und anschließend behandelt als in der Kontrollgruppe. In frühen Stadien der Erkrankung besteht die Therapie ausschließlich aus dem chirurgischen Entfernen des Tumors, wobei oft Komplikationen auftreten.
Zu viele Kinder behandelt
Bekannt ist, dass Neuroblastome sich vor dem ersten Lebensjahr spontan wieder zurückbilden können. Die Untersuchung habe nun gezeigt, dass dies offenbar auch bei Kindern über einem Jahr möglich ist, kommentierte der Sekretär des Modellprojekts, Dr. Freimut Schilling vom Olgahospital in Stuttgart in einer Presseerklärung der Deutschen Krebshilfe. Somit wurden Kinder operiert, bei denen sich der Tumor von selbst zurückgebildet hätte. Im voraus zu bestimmen, bei welchen Kindern dies der Fall sein wird und bei welchen der Tumor weiter wächst und Metastasen bildet, ist derzeit nicht möglich.
Jährlich erkranken in Deutschland rund 130 Kinder an einem Neuroblastom, so die Deutsche Krebshilfe. Damit handelt es sich um den zweithäufigsten soliden Tumor im Kindesalter. Wird der Tumor vor der Metastasierung entdeckt, können vier von fünf Kindern geheilt werden. Hat die Wucherung bereits gestreut - wie bei etwa der Hälfte der Patienten - überlebt nur jedes fünfte Kind.
An der deutschen Mammutstudie hatten von Mai 1995 bis April 2001 eineinhalb Millionen Kinder aus den Bundesländern Baden-Württemberg, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein teilgenommen. Zum Zeitpunkt der Untersuchung waren sie etwa ein Jahr alt. Die Kontrollgruppe bildeten die Kinder aus den restlichen Bundesländern, deren Urin nicht untersucht wurde. Die Erkrankungsfälle meldete das Deutsche Kinderkrebsregister in Mainz, das die Krebserkrankungen bei Kindern in Deutschland erfasst. Das Projekt stand unter der Projektträgerschaft der Deutschen Krebshilfe und wurde von den gesetzlichen Krankenkassen, dem Bundesministerium für Gesundheit, privaten Krankenversicherungen sowie den Gesundheitsministerien der beteiligten Länder finanziell gefördert.
Auch wenn das Neuroblastom-Screening nicht sinnvoll ist,
Früherkennungsmaßnahmen bleiben die wichtigste Säule im Kampf gegen
Krebs, so die Deutsche Krebshilfe. Das Modellprojekt habe jedoch gezeigt,
wie wichtig es ist, vor der flächendeckenden Einführung von
Früherkennungsuntersuchungen deren Nutzen in kontrollierten Studien zu
belegen.
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