Die Fettlüge |
07.04.2003 00:00 Uhr |
Bislang galt in der Ernährungsberatung der Grundsatz: Fett macht fett. So eingängig dieser Slogan ist, so wenig scheint er wissenschaftlich erwiesen. Dies jedenfalls behaupten amerikanische Ernährungsforscher, die vielmehr vor den langfristigen Folgen einer einseitigen Fettreduktion warnen.
Parallel zu den Erfolgen der neu entwickelten Lipidsenker, setzte sich in den USA während der 80iger-Jahre die diätetische Empfehlung durch, möglichst wenig Fett zu sich zu nehmen. Da die Anzahl an tödlichen Herzinfarkten unter der Therapie mit den Cholesterolsenkern deutlich abnahm, schien der Schluss auf das Fett als Bösewicht logisch zwingend. Zu diesem Zeitpunkt war allerdings noch nicht bekannt, dass die neue Klasse der Cholesterol-Synthese-Hemmstoffe (Statine) auch entzündungshemmend wirkt.
So weiß man heute, dass der kardioprotektive Effekt auf weiteren, den so genannten pleiotropen Wirkungen der Substanzen beruht (siehe Kasten). Darüber hinaus ist der Einfluss einer fettarmen Ernährung auf die Blutfettwerte längst nicht so hoch wie ursprünglich vermutet und erhofft. Durch eine sehr restriktive Fettzufuhr, also weniger als 25 Prozent der insgesamt aufgenommen Energie, sinken die Blutfette lediglich um circa 3 Prozent.
Fett macht weder krank noch fett
Die Freude darüber, im zu hohen Fettkonsum die Ursache für Krankheiten und Tod gefunden zu haben, trübte sich, als Wissenschaftler die Ernährungsgewohnheiten anderer Völker genauer studierten. Dabei fielen besonders die Eskimos und einige afrikanische Volksstämme auf, allen voran die Massai, die trotz hoher Fettaufnahme (bis zu 60 Prozent der Gesamtkalorien) weniger an Atherosklerose und den damit assoziierten Krankheiten litten als die Menschen in der westlichen Welt. In Deutschland liegt die durchschnittliche Fettaufnahme bei 36 Prozent, knapp über dem von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) vorgegebenen Richtwert von 30 Prozent.
Pleiotrope Effekte der Statine Unter pleiotropen Effekten versteht man die nicht lipidsenkenden Einflüsse der Statine auf Gefäße und Myokard:
(siehe hierzu die leitlinienbasierten Therapieempfehlungen unter www.fvk-berlin.de/fvkweb/fvkindex.html)
Der amerikanische Ernährungsforscher Professor Dr. Walter C. Willet und sein Team von der Harvard University in Boston stellten in der bisher größten Langzeitbeobachtungsstudie, an der rund 150.000 Mitarbeiter im Gesundheitswesen teilnahmen, fest, dass die täglich zugeführte Fettmenge keinen signifikanten Einfluss auf die Anzahl von Herzinfarkten hat (1). Adrian F. Heini, Montreux, resümierte die Ergebnisse der amerikanischen Anti-Fett-Kampagne der letzten 20 Jahre als „American Paradox“, denn trotz einer verminderten Fettzufuhr stieg das durchschnittliche Gewicht der Amerikaner nachhaltig an (2).
Selbst eine sehr geringe Fettaufnahme ist kein automatischer Schutz vor dem gefürchteten Übergewicht: So sind nahezu 60 Prozent der südafrikanischen Bevölkerung übergewichtig, obwohl sie nur etwa 22 Prozent der Kalorien in Form von Fett aufnehmen. Dies zeigt, dass massives Übergewicht selbst dann auftreten kann, wenn die Fettzufuhr sehr niedrig ist (3).
Nur ein Surrogatparameter
Die Normalgewichtsberechnung nach Broca (Körpergröße in Zentimeter minus 100 minus 10 bis 15 Prozent, je nach Geschlecht) wird von Ernährungsfachleuten nicht mehr empfohlen. Heute gilt der so genannte Body-Mass-Index (BMI – Verhältniszahl aus dem Körpergewicht und dem Quadrat der Körpergröße in Meter) als das Maß, das darüber entscheidet, ob jemand unter-, normal- oder übergewichtig ist. Wer einen BMI zwischen 25 und 29 hat, gilt als übergewichtig. Ab einem BMI-Wert von 30 und mehr ist der Betreffende adipös.
Viele Studien der letzten Jahre belegen einen Zusammenhang zwischen BMI-Wert und dem Risiko für bestimmte Erkrankungen wie koronare Herzkrankheit oder Diabetes mellitus. Für die Bewertung dieser Befunde ist allerdings entscheidend, dass auch eine noch so große Korrelation einen kausalen Zusammenhang nicht hinreichend begründet. Beim BMI-Wert handelt es sich bestenfalls um einen Surrogatparameter, der ähnlich wie Blutdruck, Cholesterolwert oder Knochendichte eine gewisse Vorhersagefunktion besitzt, aber keinen Ersatz für harte, klinisch relevante Endpunkte wie etwa die Mortalität darstellt. Mit dem BMI-Wert lässt sich lediglich eine Facette des Risikoprofils eines Menschen beschreiben, und keinesfalls bestimmte Erkrankungen erklären oder für die Zukunft sicher prognostizieren.
Viele Untersuchungen, die ein Gesundheitsrisiko durch einen zu hohen Fettkonsum oder durch ein zu hohes Körpergewicht belegen (gemessen als BMI-Wert), berücksichtigen Störgrößen, so genannte „confounding variables“, oft gar nicht oder nicht genügend. Als wichtigste störende Variablen beeinflussen Alter, Geschlecht und Rauchen die Ergebnisse von Studien. Bei Untersuchungen zu bestimmten Ernährungsparametern müssten auch die gesundheitsrelevanten Aspekte des gesamten Lebensstils wie Art und Ausmaß der körperlichen Aktivität berücksichtigt werden.
In der bislang umfangreichsten Literaturstudie untersuchten 1996 Forscher des amerikanischen National Center for Health Statistics und der Cornell University in Ithaca, New York, das Gesundheitsrisiko für bestimmte BMI-Werte. Es wurden insgesamt Daten von mehr als 600.000 Probanden analysiert. Das Ergebnis: Die geringste Mortalitätsrate trat bei Nichtrauchern mit BMI-Werten zwischen 23 und 29 auf, also bei einer Mehrzahl von Menschen, die nach der offiziellen Bewertung als übergewichtig eingestuft würden. Bei nicht rauchenden Frauen war die Spanne der BMI-Werte, bei denen die geringste Mortalitätsrate auftrat, sogar noch größer: Sie lag zwischen 18 und 32. Durchschnittlich große Frauen können sich also in ihrem Körpergewichte mehr als 40 Kilogramm unterscheiden, ohne ein unterschiedliches Risiko zu haben, vorzeitig zu sterben (4).
Was ist evident?
Zu den Themen gesunde Ernährung und dauerhafte Gewichtsreduktion hat die britische Forscherin Lee Hooper vom University Dental Hospital of Manchester Richtlinien erarbeitet, mit denen sich nachweislich positive Effekte für die Gesundheit erzielen lassen. Nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin kommt es beim Wirksamkeitsnachweis einer Behandlung oder einer Maßnahme darauf an, wie viele Patienten behandelt werden müssen, um einen zu retten. Diese auch „Number needed to treat – NNT“ genannte Zahl liegt bei Herzinfarktpatienten bei einer mediterranen Ernährung bei durchschnittlich 14. Das bedeutet, wenn sich 14 Infarktpatienten nach der „Kreta-Diät“ ernähren, wird so einem Todesfall vorgebeugt. „Eine Fettreduktion und/oder Fettmodifikation hat hingegen keine signifikanten Auswirkungen auf die Sterblichkeit“, schreibt Hooper in den Therapierichtlinien, die sie für die British Dietetic Association zusammengestellt hat und die unter www.bda.uk.com nachzulesen sind (5).
Durch Einsparen von Fett allein lässt sich auch das Gewicht nicht auf Dauer reduzieren. In der bisher längsten Studie untersuchten Professor Dr. Robert H. Knopp, Direktor der Northwest Lipid Research Clinic in Seattle, Washington, und seine Kollegen den Zusammenhang zwischen Fettzufuhr und Gewichtsabnahme. Die Probanden wurden zufällig in vier Gruppen eingeteilt, in denen sie unterschiedlich viel Fett essen durften. Nach einem Jahr ließ sich zwischen den Gruppen kein signifikanter Unterschied bezüglich des verlorenen Gewichts feststellen. In der Gruppe mit der geringsten Fettaufnahme stiegen dagegen die Triglyceride um 39 Prozent an (6).
Auch die fettarmen, vermeintlich leichten Light-Produkte sind für Diätzwecke meist nicht geeignet. Ihre Gesamtkalorienmenge entspricht häufig der von herkömmlichen Produkten. Auch der Austausch von „bösem“ Fett gegen die „guten“ Kohlenhydrate birgt einige Probleme. Wer mehrmals täglich kohlenhydrathaltige Zwischenmahlzeiten zu sich nimmt, betreibt so mitunter eine regelrechte Insulinmast. Abnehmen ist nahezu unmöglich, wenn das Insulin im Blut die für den Fettabbau nötige Lipase hemmt. Wer kann, sollte daher versuchen, mit drei nachhaltig sättigenden Mahlzeiten seinen Tag zu bestreiten. Die Kalorienmenge aus Kohlenhydraten sollte pro Mahlzeit nicht über 500 Kilokalorien liegen, weil sonst die Lipogenese aus den Acetyl-CoA-Baustücken beginnt und Fettpolster angelegt werden.
Ein besonders hartnäckiger Kritiker der These, dass das Körpergewicht für sich genommen ein eigenständiges Gesundheitsrisiko darstellen kann, ist Professor Dr. Glenn Gaesser von der University of Virginia in Charlottesville, Virginia. Er schätzt, dass drei Viertel aller Studien zwischen 1945 und 1995 zu den Auswirkungen des Körpergewichts auf die Gesundheit entweder keinen Hinweis auf ein erhöhtes Gesundheitsrisiko liefern, oder sogar einen günstigen Effekt belegen. In seinem Buch „Big Fat Lies“ kritisiert er, dass bis 2002 keine einzige Forschungsarbeit den eigenständigen Effekt des Körpergewichts auf die Gesundheit evaluiert habe, nachdem gelten könnte, je dünner desto gesünder. Dies sei vielmehr eine unbewiesene Hypothese und weit mehr Evidenz bestünde für die gegenteilige Meinung (4).
Mehr Bewegung
Glaubt man den kritischen Stimmen, dann wird Übergewicht erst zum Gesundheitsrisiko, wenn andere Faktoren hinzukommen. Vor allem mangelnde Bewegung, aber auch häufige Gewichtsschwankungen durch erfolglose Abspeckversuche spielen hier eine Rolle. Einer der führenden Experten auf dem Gebiet des Gesundheitssports ist Steven Blair, Forschungschef des Cooper Institute in Dallas, Texas. Er konnte zeigen, dass übergewichtige Menschen, die sich nur moderat körperlich bewegten, ein deutlich geringeres Risiko für einen früheren Tod aufweisen als Bewegungsmuffel mit Idealgewicht.
Entgegen der Erwartung, dass dünn und fit das beste sei, fand Blair bei trainierten Probanden - egal ob normal- oder übergewichtig - keinen Unterschied in der Sterblichkeit. Um in den Genuss der gesundheitlichen Vorteile des Sports zu kommen, muss man keineswegs zum Marathonläufer werden. Dreimal pro Woche eine halbe Stunde intensiv zu gehen oder auf andere Art das Herz-Kreislauf-System anzuregen und circa 2000 Kilokalorien zusätzlich pro Woche zu verbrennen, reicht aus. Oberstes Ziel ist die kardiovaskuläre und metabolische Fitness (4).
Krank durch Diäten
Eine Vielzahl von Studien belegt, dass ein kurzfristiger und massiver Gewichtsverlust von über 10 Prozent des ursprünglichen Körpergewichts eine deutliche Gesundheitsgefahr darstellt. So zeigte die Iowa Women’s Health Studie mit 42.000 Teilnehmerinnen, dass Frauen mit einem BMI zwischen 25 und 29 ein deutlich geringes Sterblichkeitsrisiko hatten, als Frauen mit Idealgewicht (BMI unter 24)(7). Vor allem wiederholte Crashdiäten, mit großem Gewichtsverlust in kurzer Zeit, können die körpereigenen Regelkreise des Energiestoffwechsels nachhaltig stören. Der Jo-Jo-Effekt ist sicherlich am bekanntesten. In einer längeren „Hungerphase“ wird der kalorische Grundumsatz dauerhaft erniedrigt, weshalb die verlorenen Pfunde nach Beenden der Diät schnell wieder drauf sind. Außerdem werden deutlich weniger Kalorien als vorher benötigt, um das Gewicht zu halten.
Ein Verzicht auf Fett führt nicht automatisch dazu, dass die Gesamtkalorienaufnahme sinkt. Besonders dann nicht, wenn die Energie des gesparten Fetts lediglich durch einfache Kohlenhydrate ersetzt wird. In Verbindung mit einem bewegungsarmen Lebensstil führt diese Art der Ernährungsumstellung lediglich zu Hyperinsulinämie, Hypertriglyceridämie und reduzierten HDL-Werten (8).
„Ich nehme ab“
Unter dem Titel „Ich nehme ab“ hat die DGE ein Programm entwickelt, das in zwölf Schritten zu einer dauerhaften Änderung hin zu einem gesunden Lebensstil motivieren soll. Abnehmwillige können entweder für sich allein oder in einer Gruppe ein gesünderes Verhalten erlernen. „Ich nehme ab“ geht davon aus, dass nicht Fett allein fett macht. Übergewicht bildet sich vielmehr dann, wenn Essen und Trinken nicht nur dem körperlichen Überleben dienen, sondern ungestillte Bedürfnisse befriedigen soll. Das Trainingskonzept liefert dabei kein spektakuläres Diätrezept, bei dem die Pfunde nur so purzeln. Es dient vielmehr der langsamen Umstellung des Ernährungsverhaltens. Wichtige Instrumente sind dabei die ganzheitliche Selbstwahrnehmung letztlich selbstschädigender Verhaltensweisen, die Unterbrechung solcher Verhaltensmuster, das Neu- oder Wiedererlernen nützlicherer Alternativen und die Reaktivierung der Lust auf körperliche Bewegung.
„Ich nehme ab“ bietet auch Apothekern eine Chance. Ohne den Verkauf mehr oder weniger unwirksamer Fatburner und Pülverchen oder der problematischen Empfehlung zu Trennkost, MCT-Fetten und anderen „Glyx-Diäten (die Lebensmittelauswahl richtet sich hier am Glykämischen Index aus) lassen sich abnehmwillige Patienten auf ihrem Weg zu einem gesunden Lebensstil mit diesem Programm heilberuflich begleiten. Vor allem Apotheker mit der Zusatzqualifikation auf dem Gebiet der Ernährungsberatung können die Kosten für die Teilnahme an einem Gruppentraining mit den jeweiligen Krankenkassen abrechnen.
Literatur
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