Detailwissen statt Zusammenhang |
28.03.2005 00:00 Uhr |
Im Gehirn autistischer Menschen klappt die Verständigung zwischen einzelnen Hirnarealen nicht. So können sie sich zwar ungewöhnlich gut Details merken, diese jedoch nicht in einen Zusammenhang setzen. Neue Forschungsergebnisse unterstützen diese Theorie.
Viele autistische Menschen können sich auf fast erschreckende Art und Weise Einzelheiten merken, die gesunde Menschen sofort wieder vergessen. Aber miteinander verknüpfen können sie die Einzelheiten nur schlecht. So brillieren sie einerseits in Buchstabierwettbewerben, haben aber andererseits Schwierigkeiten, die Bedeutung eines Satzes oder gar einer ganzen Geschichte zu verstehen. Grund hierfür scheint zu sein, dass unterschiedliche Areale des Gehirns ungenügend zusammenarbeiten, wie jetzt Forscher des National Institute of Child Health, USA, beobachteten.
Der Psychologe Marcel Just und die Neurologin Nancy Minshew konnten mit Hilfe des funktionellen MRI (Magnet Resonance Imaging) das Zusammenspiel verschiedener Hirnareale beim Lösen von Aufgaben direkt beobachten (1). Sie ließen 14 Autisten einen einfachen Gedächtnistest mit Buchstaben des Alphabets absolvieren. Die Patienten bekamen eine Reihe von Buchstaben vorgelegt und mussten manchmal den vorherigen Buchstaben benennen und manchmal denjenigen, der zwei Buchstaben zurück lag. Sowohl autistische Versuchsteilnehmer als auch die gesunden Kontrollpersonen hatten keine Probleme, die Aufgaben zu lösen. Nur setzten sie hierzu jeweils andere Hirnareale ein: Während die Kontrollgruppe zur Aufgabenlösung hauptsächlich ihre linke Hirnhälfte aktivierte, arbeiteten die Autisten mehr mit der rechten. Dabei ist die linke Hirnhälfte der Sitz der sprachlichen Fähigkeiten, während die rechte Hemisphäre eine größere Rolle bei der Verarbeitung von Formen und visuellen Informationen spielt. Dies bedeutet, dass Menschen mit Autismus Buchstaben anhand ihrer Gestalt erkennen, während gesunde Probanden sie linguistisch wahrnehmen.
Die Hirnaktivierungsmuster unterschieden sich zudem noch auf eine andere Art und Weise. Autistische Menschen zeigten weniger Aktivität in den vorderen Teilen des Gehirns als gesunde. Bei ihnen verlagerte sich die Hirnaktivität auf hintere Bereiche. Dies entspricht der Beobachtung, dass Autisten sich unendlich viele Einzelheiten merken können, aber keinen übergeordneten Zusammenhang daraus erstellen können. Denn der vordere Hirnbereich ist zum komplexen Denken nötig, während der hintere mehr in der Wahrnehmung von Details involviert ist. Des Weiteren arbeiten die einzelnen Hirnareale bei Autisten ungenügend zusammen und wenig synchron. Die Synchronisation ist aber Voraussetzung zur Analyse und zum Denken auf höheren Ebenen eben das, was vielen autistischen Menschen Schwierigkeiten bereitet.
Gedächtnis arbeitet visuell
In dieselbe Kerbe schlägt eine auf der Jahrestagung der International Neuropsychological Society in St. Louis vorgestellte Studie (2). Auch hier konnte gezeigt werden, dass das visuelle Gedächtnis von Autisten fast unschlagbar ist, die Fähigkeit aber auf Kosten des Erkennens von Zusammenhängen geht. Das Team von David Beversdorf bemerkte dies, als sie 14 „gemäßigten”, noch mit ihrer Umwelt kommunizierenden Autisten und 14 Kontrollpersonen eine Serie geometrischer Figuren zeigten. Anschließend legten die Forscher ihnen eine neue Serie vor, die sich aus jeweils zwei alten und neuen Testbildern zusammensetzte und einem fünften Bild, das einem Bild aus der ersten Serie sehr ähnelte, jedoch nicht völlig mit ihm übereinstimmte.
Um diesen Unterschied zu bemerken, musste man ganz genau hingeschaut haben. Dies gelang nur den autistischen Probanden. Während die Kontrollpersonen sich von der Ähnlichkeit täuschen ließen, erkannten Autisten auch die kleinsten Abweichungen. Grund für die mangelnde Aufmerksamkeit der Kontrollgruppe: Sie hatten den Zusammenhang der ersten Serie berücksichtigt also Größe, Gestalt und Farbe dieser Bilder , um zu entscheiden, ob sie das fragliche Bild vorher schon einmal gesehen hatten. Eben diese Nutzung des Kontextes findet im autistischen Gehirn offensichtlich nicht statt, interpretiert Beversdorf seine Ergebnisse.
Einen zellulären Defekt, der möglicherweise diese Beobachtungen erklären könnte, haben nun Wissenschaftler der Columbia University bestätigt (3). Damit Nervenzellen untereinander Informationen austauschen können, sind sie über unzählige Nervenfortsätze miteinander verbunden. So erhalten sie über Synapsen stimulierende und hemmende Nachrichten von den sie umgebenden Neuronen. Um solche Verbindungen aber knüpfen zu können, benötigen die Zellen bestimmte Komponenten; unter anderem die Neuroligine. Fehlen diese Stoffe, ist die Bildung der neuronalen Schaltung gestört. Die Balance gerät aus den Fugen.
Gendefekt bei Neuroliginen
Autistische Menschen haben genau in der Gengruppe für Neuroligine einen Defekt. Peter Scheiffele konnte nun an Rattenneuronen zeigen, wie sich der Fehler aufs Gehirn auswirkt. Rattenzellen ohne Neuroligine knüpften Verbindungen, welche den veränderten Verschaltungen autistischer Kinder eindrucksvoll ähnelten. Verloren gingen ausschließlich hemmende Synapsen, was die feine Regulation der neuronalen Anschlüsse verhindert. Ein für den Autismus bekanntes Problem.
Damit ist die Ursache für Autismus jedoch noch nicht gänzlich geklärt. Einige Forscher spekulieren auf Grund eines neuen Studienergebnisses über einen möglichen Zusammenhang zwischen Autoimmunerkrankungen und der neurologischen Krankheit. Eine Untersuchung von 88.000 Neugeboren hat gezeigt, dass eine behandlungsdürftige Allergie, Schuppenflechte oder Asthma während der Schwangerschaft das Risiko für Autismus erhöht (4). Besonders groß sei die Gefahr im zweiten Drittel der Schwangerschaft, berichten die Wissenschaftler. Autismus als Impfschaden scheint hingegen auf keinerlei wissenschaftlichen Fakten zu beruhen, wie eine Studie der Mayo Klinik in Rochester, USA, jetzt bestätigte (5).
Quellen:
Just, M. A., et al., Functional connectivity in an fMRI working memory task in high-functioning autism. NeuroImage 24 (2005) 810-821.
Beversdorf, D., et al., International Neuropsychological Society meeting in St. Louis. (4. Februar 2005).
Scheiffele, P., Control of Excitatory and Inhibitory Synapse Formation by Neuroligins. Onlineveröffentlichung, Science (2005).
Coen, L., et al., Maternal Autoimmune Diseases, Asthma and Allergies, and Childhood Autism Spectrum Disorders. Arch Pediatr Adolesc Med 159 (2005) 151-157.
Barbaresi, W. J., et al., The Incidence of Autism in Olmsted County, Minnesota, 1976 - 1997. Arch Pediatr Adolesc Med 159 (2005) 37-44.
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