Blutzellen verändern fließend ihre Form |
24.03.2003 00:00 Uhr |
Mikroroboter sollen eines Tages die Funktion kranker oder fehlender Organe übernehmen oder Blutgefäße von gefährlichen Ablagerungen befreien. Damit solche Träume wahr werden, sind biokompatible Oberflächen vonnöten. Münchner Forscher schaffen hierfür die Grundlagen, indem sie rote Blutkörperchen genauer unter die Lupe nehmen.
Erythrozyten sind in der Lage, sich durch Blutgefäße zu zwängen, deren Durchmesser nur halb so groß ist wie ihr eigener. Wie eine Flüssigkeit können sie in Bruchteilen von Sekunden ihre Gestalt verändern; gegenüber schnellen Spannungsänderungen erweisen sie sich jedoch als steinhart. Auf der Suche nach den zu Grunde liegenden Mechanismen, die zu einer Generation neuer Substanzen führen könnte, hat ein Team um Professor Dr. Erich Sackmann von der Technischen Universität München diese Verwandlungskünstler ins Visier genommen.
Die meisten Bestandteile der Zelle gehören zur Stoffklasse der weichen Materialien. In der unbelebten Materie zählen dazu Schwämme, Kunststoffe und Textilien. Ihnen allen ist gemeinsam, dass ihre Eigenschaften zwischen denen von Festkörpern und Flüssigkeiten liegen. Weiche Materialien in Organismen reagieren sehr flexibel auf äußere Einflüsse; künstlich nachahmen lässt sich das bisher kaum. Mehr über diese Werkstoffe der Natur herauszufinden, ist das Ziel der Wissenschaftler.
Störung in der Zellmembran
Die Hülle eines roten Blutkörperchens besteht aus einer zusammengesetzten Membran: Eine doppelte Schicht von Fettmolekülen, die wie Nadeln nebeneinander angeordnet sind, bildet die Grundstruktur. In diese Lipidschicht sind die Funktionseinheiten, die Proteine, eingebettet. Schon kleine Änderungen der Lipidzusammensetzung können sich fatal auswirken. So sind Störungen in der Zellmembran am Ausbruch zahlreicher Krankheiten beteiligt.
Biochemische Reaktionen an der Zellmembran erfordern einen effektiven Molekültransport, und dazu muss die Membran in einem flüssigen Zustand sein. Sie ist in ihrer Struktur extrem flexibel, ihre Oberfläche wegen der Stöße der umgebenden Wassermoleküle jedoch rau und in Bewegung wie ein See, wenn eine steife Brise weht. Diese Eigendynamik schützt die Zellen vermutlich vor dem Angriff gewebeständiger Proteasen, indem sie eine zu starke Adhäsion an Oberflächen verhindert. So überstehen die roten Blutkörperchen während ihrer 120 Tage dauernden Lebenszeit unbeschadet die rund 400 Kilometer lange Reise durch die Blutgefäße.
Rote Blutkörperchen als Vorbild
Das Münchner Forscherteam untersucht, wie Zellabstoßung und Adhäsion reguliert werden. Ein Ziel der Wissenschaftler ist es, die Zellabstoßung zu umgehen, um Zellen an Oberflächen ansiedeln zu können. Hierfür gibt es mehrere Modelle: Eine erfolgreiche Methode ist zum Beispiel, Festkörper mit einer hydrophilen Polymerschicht zu überziehen. Die Kopplung wird dabei über eine hauchdünne Schicht von Alkylsilanen vermittelt, die funktionelle Gruppen wie Epoxygruppen tragen. Über eine Hydrolyse werden die Carboxylgruppen des Polymers kovalent mit den Alkylsilanen vernetzt. Solche biokompatiblen und biofunktionalen Schnittstellen zwischen Festkörpern und lebendem Material sind interessante Modelle, um die Kräfte zu studieren, welche die Zelladhäsion steuern.
Fließender Übergang
"Ziel unserer Forschung ist es, Oberflächen so zu präparieren, dass man Zellen unter natürlichen Bedingungen stressfrei fixieren kann. Dadurch vermeidet man eine Denaturierung der Proteine, die sonst zum Untergang der Zelle führen würde", erklärt Sackmann. Gelungen ist dies bereits bei Goldoberflächen, die mit Thiolen überzogen werden, sowie bei Silizium, das man mit Silanen präparieren kann. Mit welchem Material man jedoch eine Verbindung zwischen Titanoberflächen und lebenden Zellen herstellen kann, ist noch ungeklärt. Eine weitere Möglichkeit sieht der Wissenschaftler in der Verwendung von natürlichen Polymeren wie Hyaluronsäure, Collagenen und Proteoglykanen, um so Modelle der Basalmembran zu bauen, einer dünnen Matte, die im Körper Zellen vom Bindegewebe trennt. Eine Verknüpfung zur lebenden Zelle würde wieder über Silane erfolgen.
So könnte der Übergang zwischen lebender und nicht-lebender Materie weich und fließend verlaufen. Wird diese Forschung eines Tages in die Praxis umgesetzt, könnte verhindert werden, dass der Körper Implantate aus Titan als Fremdkörper erkennt und eine immunologische Abwehrreaktion in Gang setzt.
Interessant sind diese Untersuchungen auch für die Entwicklung neuer Arzneistoffe. Wenn es beispielsweise gelingt, gentechnisch hergestellte Hormonrezeptoren in Biomembranen zu fixieren, könnte die Bindung der Substanzen an diese Rezeptoren studiert werden: Wie groß ist ihre Affinität zum Rezeptor? Wirken sie wie der natürliche Botenstoff oder heben sie dessen Wirkung gerade auf? Sowohl der erwünschte Effekt als auch mögliche Nebenwirkungen ließen sich durch ein solches Screening schon im Vorfeld besser abschätzen.
Ob eine Annäherung zwischen lebender Zelle und Festkörpern tatsächlich einmal Anwendung in der Medizin oder Informationstechnologie findet, ist noch offen. Für die Grundlagenforschung liefert sie jedenfalls neue Einblicke in überraschende Zusammenhänge und überspringt die Grenzen der Fachdisziplinen, indem sie Biologie und Medizin ebenso einbezieht wie Physik und Halbleitertechnologie.
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