Präventionsmaßnahmen verstärkt nutzen |
01.03.2004 00:00 Uhr |
Früherkennung kann Leben retten. Doch immer noch nutzen zu wenig Menschen die Chancen der Darmkrebs-Prävention. Wie Menschen für die Vorsorge gewonnen werden können, diskutierten Experten aus allen Heilberufen, aus Politik und von Selbsthilfegruppen bei der Arbeitskonferenz Darmkrebs auf dem Krebskongress 2004 in Berlin.
„Wir haben in Deutschland eines der besten Präventionskonzepte der Welt“, sagte der Präsident der International Digestive Cancer Alliance, Professor Dr. Meinhard Classen aus München. Koloskopien und der Test auf okkultes Blut im Stuhl (FOBT) sind als Screeninguntersuchungen ab einem bestimmten Lebensalter gesetzliche Kassenleistungen. Ziel der Untersuchungen ist es, Adenome oder Frühstadien eines Darmtumors rechtzeitig zu erkennen. Ihre endoskopische oder chirurgische Entfernung führt mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Heilung. Experten schätzen, dass die Darmkrebs-Früherkennung allein in Deutschland jährlich rund 15.000 Leben rettet. „Doch noch nehmen zu wenig Mitbürger an der Früherkennung teil“, sagte Classen. Nach wie vor sei die Erkrankung ein Tabuthema, denn alles, was mit der Verdauung zusammenhängt, werde in unserer Gesellschaft schamhaft verschwiegen. Unwissenheit, Angst und der schlechte Ruf der Koloskopie stellen große Barrieren für erfolgreiche Präventionsarbeit dar.
„Ziel der Arbeitskonferenz Darmkrebs in Berlin war es, diese Barrieren auf verschiedenen Ebenen zu identifizieren und Gegenstrategien zu entwickeln“, sagte Classen. Besonders bei den Männern hat die Darmkrebs-Vorsorge ein sehr negatives Image. Aber es gibt auch sprachliche und kulturelle Barrieren, so zum Beispiel bei Immigranten, anderen Religionsgemeinschaften und Menschen mit niedrigen Einkommen.
Die 120 Teilnehmer der Arbeitskonferenz, darunter Betroffene, Juristen, Unternehmer, Heilpraktiker, Ärzte und Apotheker erörterten die Wünsche und Forderungen der verschiedenen Gruppen, tauschten Informationen aus und formulierten Handlungsempfehlungen. Apotheker und Heilpraktiker sahen vor allem die Notwendigkeit den bislang ungenügenden Informationsaustausch zwischen den Heilberufen zu verbessern. Eine ideale Basis hierzu könnte in Zukunft das Netzwerk gegen den Darmkrebs e. V. sein, in dem über 20 wissenschaftliche Gesellschaften und Organisationen sowie die kassenärztlichen Vereinigungen des Bundes und der Länder zusammengeschlossen sind, meinte Classen. Am ersten März hat der neue Verein seine Geschäftsstelle in München eröffnet.
Barriere Informationsmangel
Eine weitere Forderung, die auf der Konferenz erarbeitet wurde, war, dass der Hausarzt als Navigator fungieren und das Screening individualisieren sollte, also jeden seiner Patienten entsprechend seiner Risiken und dessen Wünschen berät. Hierfür sollte der Hausarzt die einzelnen Untersuchungsmethoden vorstellen, eine Familien-Anamnese erheben und Begleitkrankheiten recherchieren, um das persönliche Risiko festzustellen. „Es soll niemand zur Vorsorge gedrängt werden“, sagte Classen. Vielmehr gelte es zu überzeugen. Wie erfolgreich solch eine individuelle Beratung sein kann, zeigt ein Beispiel aus Augsburg. Dort hatte ein Allgemeinarzt alle über 50-jährigen Patienten seiner Praxis über die Darmkrebs-Vorsorge aufgeklärt. Daraufhin nahmen fast 80 Prozent der Menschen das Angebot wahr. Wenn der Arzt sich engagiere, erreiche er eine große Zahl seiner Patienten, so Classen. Doch für den Erfolg der Präventionsarbeit sei es ebenso wichtig, dass die Sprechstundenhilfen gut informiert wären.
Auch in Unternehmen können Darmkrebsscreening durchgeführt werden. Im Jahr 2003 hatten die Felix-Burda-Stiftung und die Stiftung Lebenshilfe an 514.000 Unternehmens-Mitarbeiter in Deutschland Informationspakete einschließlich Vorsorgetests verteilt. Besonders Männer können über das Engagement der Betriebe sehr viel besser erreicht werden als sonst.
„Aber nicht nur die Patienten sind ungenügend informiert, es bestehen auch bei vielen Allgemeinärzten Defizite“, berichtete die Präsidentin der Felix-Burda-Stiftung Dr. Christa Maar. So versäumten es viele Hausärzte, eine Familien-Anamnese zu stellen, und beachteten somit das Familienrisiko zu wenig. Manche Allgemeinärzte weigerten sich, beim Auftreten von Blut im Stuhl, weiterführende Untersuchungen zu machen, da für sie die Diagnose Hämorrhoiden feststehe.
Deshalb forderten die Experten der Arbeitskonferenz, die Informationen aus der neu erarbeiteten Leitlinie „Kolorektales Karzinom 2004“, für Allgemeinärzte in kurzer und verständlicher Form verfügbar zu machen. Dafür sollen die wichtigsten Punkte auf einer Seite zusammengefasst werden, die für ein etwa achtminütiges Beratungsgespräch mit den Patienten geeignet sind. Die Kosten für ein solches Beratungsgespräch bekommen die Hausärzte von den gesetzlichen Krankenkassen ersetzt. Auch für andere Heilberufe ist ein solches Informationsblatt in Arbeit.
Die neue Leitlinie entspricht dem derzeitigen Wissensstand in der Medizin zur Darmkrebs-Früherkennung. Vor drei Wochen wurde das Leitlinie, an dem unter anderem die Deutsche Gesellschaft für Verdauungs- und Stoffwechselerkrankungen, die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie und die Deutsche Krebsgesellschaft mitgearbeitet haben, bei einer Konsensuskonferenz in Bochum verabschiedet. Damit wurden die Empfehlungen der deutschen Fachgesellschaften von 1999 dem neuesten Kenntnisstand angepasst.
Auch elektronische Medien könnten verstärkt für die Prävention eingesetzt werden. So kann es die elektronische Patientenakte ermöglichen, über Internet die Menschen an Vorsorgetermine zu erinnern. Momentan gehören die Gesundheitsportale im Internet zu den am schnellsten wachsenden Bereichen. „Auf einer der großen Internetplattformen werden wir daher in der nächsten Zeit einen Vorsorgecoach für Darmkrebs entwickeln“, sagte Maar.
Weiterhin wurde die Einrichtung von Präventionszentren angedacht. Nach amerikanischem Vorbild können dort Menschen alle Früherkennungs-Untersuchungen zu verschiedenen Krebsarten an einem Ort und einem Tag durchführen lassen und somit Zeit sparen. Ein entsprechendes Pilotprojekt plant derzeit die Felix-Burda-Stiftung in München: Anfang 2005 soll das Präventionszentrum eröffnet werden.
Vorsorge bei Risikopatienten
Früherkennung ist besonders bei Menschen mit einem erhöhten Darmkrebs-Risiko notwendig. Nur etwa 6 Prozent der Menschen ohne familiäre Belastung, also ohne Verwandte mit Darmkrebs, werden erkranken. Dagegen entwickeln etwa 24 Prozent der Personen mit mittleren Risiko (nahe Verwandte sind erkrankt) im Laufe ihres Lebens Darmkrebs. Zur Hochrisikogruppe gehören Menschen, die Krebsgene von ihren Eltern geerbt haben. Ihr Risiko für Dickdarmkrebs liegt bei etwa 50 Prozent. Rund 3000 Patienten aus dieser Hochrisikogruppe erkranken pro Jahr neu - vor allem sehr junge Menschen. „Doch die Krankheit wird häufig erst in einem sehr späten Stadium festgestellt, weil bei jungen Menschen die Gesundheit ansonsten noch sehr robust ist“, informierte Professor Dr. Wolff Schmiegel von der Medizinischen Universitätsklinik Knappschaftskrankenhaus in Bochum.
Bei etwa 20 Prozent der Darmkrebspatienten ist die genetische Prädisposition nicht bekannt. Die Rekonstruktion des familiären Risikos erweist sich außerdem häufig als sehr schwierig, weil der Familienzusammenhalt heutzutage nicht mehr sehr groß ist. „Wir haben ein dramatisches Nichtwissen innerhalb der Familien“, sagte Schmiegel.
Die Empfehlung, eine Früherkennungs-Untersuchung ab dem 55. Lebensjahr vornehmen zu lassen, gilt nicht mehr, wenn auch nur ein Adenom bei einem Familienmitglied gefunden wurde. Die Faustregel lautet dann: Zehn Jahre vor dem Zeitpunkt, zu dem ein Familienmitglied Darmkrebs oder Darmpolypen entwickelte, sollten sich gesunde Angehörige einer Darmspiegelung unterziehen.
Außerdem plädierten die Experten auf der Konferenz für sinnvolle Versorgungsstrukturen. Nachdem im Oktober 2002 das gesetzliche Früherkennungs-Programm eingeführt wurde, stieg in Deutschland die Zahl der Screening-Koloskopien um 500 Prozent an. „Wenn ein Mitbürger jedoch jetzt mehr als sechs Monate auf seinen Früherkennungs-Termin beim Arzt warten muss, so ist dies sehr kontraproduktiv“, sagte Schmiegel. „Es muss in der Bundesrepublik Strukturen geben, die sektorübergreifend eine kurze Wartezeit garantieren, um die Motivation, an der wir so mühevoll arbeiten, nicht zu zerstören.“
Die auf der Konferenz erarbeiteten Vorschläge und vorgetragenen Erkenntnisse aus der Darmkrebsforschung sollen demnächst in einem Positionspapier der Deutschen Krebshilfe und des Netzwerkes gegen Darmkrebs publiziert werden. Dies soll mithelfen, die Leitlinie Kolorektales Karzinom zeitnah in die Praxis zu übertragen.
Diagnoseverfahren Nach der neuen Leitlinie Kolorektales Karzinom haben folgende Untersuchungen im routinemäßigen Massenscreening keinen Platz: die Computertomographie, genetische Tests auf Blut im Stuhl und neuere immunologische Verfahren, um Blut im Stuhl nachzuweisen. Standard beim FOBT ist nach wie vor der Hämoccult-Test. Zu den immunologischen Tests, wie sie auch in Apotheken verkauft werden, sowie zu den genetischen Tests fehlen immer noch Großflächenuntersuchungen, die die Alltagstauglichkeit und Zuverlässigkeit dieser Verfahren unter Beweis stellen.
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