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Schmerzempfindlichkeit ist keine Charakterfrage

03.03.2003  00:00 Uhr

Schmerzempfindlichkeit ist keine Charakterfrage

von Dagmar Knopf, Berlin

Schmerzen sind subjektiv. Wer dies schon immer ahnte, erhält jetzt eine wissenschaftliche Erklärung für das Phänomen. Ein einziges Gen entscheidet zu einem Großteil darüber, wie gut wir Schmerzen durch körpereigene Schmerzhemmer dämpfen können.

Während es manchen Menschen schon bei geringem Anlass die Tränen in die Augen treibt, ertragen andere große Schmerzen scheinbar heroisch. Doch Schmerzempfinden ist keine Frage des Charakters. Sensibelchen müssen sich nicht für ihre scheinbare Wehleidigkeit schämen. Ihre Empfindsamkeit liegt in eine ungünstigen genetischen Ausstattung begründet, berichten Wissenschaftler in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals Science (Band 299, Seite 1240 bis 1243).

Generell ist Schmerz ein Gefühl, das der Körper nicht einfach hinnimmt und erträgt. Stattdessen produziert er körpereigene Opiate – die Enkephaline – und reduziert so unsere Reaktionen auf Schmerz und auch auf Stress. Wie viel Schmerzmittel der Körper letztendlich produziert, hängt von der Aktivität eines einzigen Gens ab: von COMT, das für die Produktion des Enzyms Catechol-O-Methyltransferase verantwortlich ist. Dieses Enzym reguliert einen wichtigen Signalweg im Gehirn, der durch den Botenstoff Dopamin die Synthese von Enkephalinen und den Gehalt an Opiatrezeptoren steuert.

Von diesem Gen gibt es zwei unterschiedliche Versionen, die sich nur durch den Austausch einer einzigen Aminosäure im Genprodukt voneinander unterscheiden. Entweder sitzt an Position 158 die Aminosäure Valin oder die Aminosäure Methionin. So klein dieser Unterschied auch scheint, so entscheidend ist er. Denn das Enzym der Genvariante mit Valin ist wesentlich aktiver als das Gegenstück mit Methionin.

Passende Rezeptoren notwendig

Je aktiver die Catechol-O-Methyltransferase wiederum ist, desto stärker reduziert sie die Konzentration des neuronalen Botenstoffes Dopamin. Als Reaktion auf wenig Dopamin schüttet der Körper sowohl viel Enkephalin als auch die dazu passenden Opiat-Rezeptoren aus. Erst die Bindung der Schmerzmittel an die passenden Rezeptoren lindert Schmerz- und Stressreaktionen.

Da die Chromosomen als Sitz der Gene jeweils in zweifacher Ausfertigung in unseren Zellen vorkommen, gibt es drei Möglichkeiten der Genausstattung. Die meisten Menschen besitzen von jeder Gen-Variante eine, also sowohl ein Gen mit Valin als auch eines mit Methionin - abgekürzt Val/Met. Manche Menschen besitzen jedoch zwei Kopien der aktiven COMT-Version (Val/Val) oder zwei inaktivere Varianten (Met/Met).

David Goldman und seine Mitarbeiter von der Universität von Michigan untersuchten in der aktuellen Studie, wie die genetische Ausstattung das Schmerzempfinden beeinflusst. Hierzu injizierten sie 18 Freiwilligen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren kleine Mengen einer 5-prozentigen hypertonischen Salzlösung in den Kiefermuskel und erzeugten so künstliche Zahnschmerzen.

Anschließend befragten sie die Probanden nach ihrem Schmerzempfinden und beobachteten mittels der Positronen-Emissions-Tomographie und einer leicht radioaktiven Substanz die Aktivität des Systems zur Schmerzunterdrückung im Gehirn. Und tatsächlich stellte sich heraus, dass die Empfindsamen unter den Teilnehmern mit der inaktiveren COMT-Variante ausgestattet waren. Wer hingegen kaum Schmerzen im Kiefer spürte, verdankte dies ebenfalls seinen Genen. Zwei Genkopien mit Valin machen stark gegen Schmerz.

Allerdings tritt der Unterschied in der Schmerztoleranz nicht sofort, sondern verzögert ein. In den ersten zehn Minuten nach Salzinjektion schmerzte der Kiefer bei den Sensibelchen und den Unempfindlichen etwa gleich stark. Setzten die Wissenschaftler die Salzgabe aber fort, machte sich die unterschiedliche Genausstattung bemerkbar. Die Probanden mit der inaktivereren COMT-Variante berichteten über deutlich stärkere Schmerzen als diejenigen mit der aktiveren. Offensichtlich handelt es sich bei dem untersuchten Weg zur Schmerzunterdrückung um kein unmittelbares System. Offensichtlich aktiviert der Körper erst dann den Signalweg, wenn die Stressoren lange anhalten.

Pech gehabt

Wer also schnell zur Schmerztablette greift, braucht zukünftig kein schlechtes Gewissen mehr zu haben. Er hat einfach Pech gehabt und eine ungünstige Genkombination geerbt, mit der sich Schmerz eben nicht heroisch ertragen lässt.

Bei Frauen spielt außerdem noch eine hormonelle Komponente mit. So ist nach früheren Ergebnissen der Estrogenspiegel maßgeblich an der Produktion der Catechol-O-Methyltransferase beteiligt. Den Gang zum Zahnarzt sollten Frauen deshalb besser an den Tagen ihrer Tagen wagen, da hier der Estrogenspiegel niedrig ist. Der Schmerz – wenn auch nicht die Angst – haben dann ein schwereres Spiel. Top

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