Wenn das Huhn nicht eckig genug schmeckt |
04.03.2002 00:00 Uhr |
dpa/PZ Für Matthias Waldeck gibt es keinen Zweifel: Eine Kreissäge klingt rötlich und sieht dabei aus wie eine schmale ausgefranste Mondsichel. Was sich nach Spinnerei anhört, ist für Waldeck Ernst. Der 46-Jährige hat die neurologische Fähigkeit, unterschiedliche Sinne wie Hören und Sehen miteinander zu verknüpfen. Er ist Synästhetiker. "Ich reagiere auf alles, was ich höre, mit einer Farbe und einer Form." Einen Klavierton beschreibt er als eine rote, nach oben offene Halbkugel.
"Etwa ein bis zwei Menschen von tausend sind Synästhetiker", sagt Professor Dr. Hinderk Emrich. Der Leiter der Abteilung für Klinische Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) beschäftigt sich mit der seltsamen Sinnesvermischung. Das häufigste Phänomen der Synästhesie sei das Farbhören. Dabei führt das Hören von Geräuschen oder Buchstaben zur Abbildung von Farben und Formen im Kopf.
"Die Fünf ist aralblau", sagt Insa Schulz. Das sei auch immer so - für sie jedenfalls. Die Bilder im Kopf variieren allerdings zwischen den Synästhetikern. "Aber es gibt Häufigkeiten. Zum Beispiel sehen etwa zehn Prozent das A rot", erklärt Emrich. Andere Synästhetiker sehen beim Riechen Farben oder beim Schmecken Formen. "Das Huhn schmeckt nicht eckig genug", sagte ein Bekannter einmal zu Waldeck. Gemeint habe er damit, dass zu wenig Salz dran war.
Sinnesvermischungen
"Warum die Betroffenen die verschiedenen Sinneseindrücke nicht trennen können, ist noch nicht verstanden", sagt Emrich. Die Grundlage werde jedoch in den ersten 24 Lebensmonaten gelegt. "Man vermutet sogar, dass alle Säuglinge zur Synästhesie fähig sind." Im Gehirn sei zu diesem Zeitpunkt noch nicht entschieden, welcher Eindruck welchem Sinn zuzuordnen sei. Erst später trenne ein Kleinkind die verschiedenen Sinneskanäle. Bei manchen bleibt die intensive und nicht lösbare Verbindung erhalten - den Synästhetikern.
Dass die Formen und Farben in Waldecks Kopf keine Einbildung sind, habe eine Versuchsreihe gezeigt. Emrich untersuchte in einem Kernspintomographen die Gehirnaktivität von Versuchspersonen. Spielte der Mediziner bei dem Experiment Waldeck Musik vor, waren im Gegensatz zu Nicht-Synästhetikern sowohl Hör- als auch Sehzentrum des 46-Jährigen aktiv. Zudem war noch das Gefühlszentrum des Gehirns, das limbische System, stark erregt.
Aus den Ergebnissen schließt Emrich, dass bei allen Menschen Wahrnehmungen über eine "limbische Brücke" verknüpft und bewertet werden. Bei Synästhetikern sei eine überhöhte Aktivität dieses Gehirnbereichs schließlich für die Vermischung von Sinneseindrücken verantwortlich.
Farb-Halluzinationen
Auch eine aktuelle Veröffentlichung in der Fachzeitschrift Nature Neuroscience kommt zu ähnlichen Ergebnissen (Online-Vorabveröffentlichung vom 24. Februar 2002). Dr. Jeffrey Gray vom Department of Psychology, Institute of Psychiatry, in London verglich die Gehirnaktivität von Menschen, die mit gesprochenen Worten Farben verbinden, mit Versuchspersonen ohne diese Veranlagung. Bei den Synästhetikern war eine bestimmte Hirnregion aktiv, die die Wissenschaftler mit dem Farbensehen in Verbindung bringen. Bei den Probanden der Kontrollgruppe blieben diese Nervenzellen inaktiv, auch wenn sie zuvor trainiert hatten, sich im Anschluss an das gehörte Wort eine bestimmte Farbe vorzustellen. Die Autoren der Studie schließen daraus, dass die Synästhesie einer Farb-Halluzination. Wie Emrich gehen sie davon aus, dass die Ursache für die Besonderheit in Entwicklungsstörungen bei der Aus- oder Rückbildung von Verbindungen zwischen der Hörrinde und dem visuellen Cortex liegt.
Die Synästhesie ist für die Betroffenen indes keine Benachteiligung, sagt Emrich. "Sie leiden nicht." Das bestätigt auch Insa Schulz: "Ich fühle mich nicht gestört. Es ist nicht immer so präsent, dass es meine normale Wahrnehmung stören würde." Bei einem Telefongespräch würde kein bunter Film in ihrem Kopf ablaufen. Erst wenn sie sich nur auf die Buchstaben konzentrieren oder sehr langsam sprechen würde, kämen die Farben.
© 2002 GOVI-Verlag
E-Mail: redaktion@govi.de