Unverstandene Tics |
24.02.2003 00:00 Uhr |
Häufig beginnt alles mit einem Augenblinzeln. Aber auch unwillkürliche Lautäußerungen wie Räuspern oder Naserümpfen können den Beginn einer Krankheit ankündigen, die bei vielen Menschen auf Unverständnis stößt: das Tourette-Syndrom (TS).
Ein Telefonat mit Christian Hempel, einem schwer Tourette-Kranken, ist eine besondere Erfahrung. Ohne das Wissen wer beziehungsweise was einen erwartet, ist der Hörer schnell wieder aufgelegt - der Anrufer ist verdutzt und verunsichert. Silben und Laute werden verschluckt, es grunzt und schnieft in der Leitung und zwischendurch schreit der Gesprächspartner mehr oder weniger verständliche Worte. Dabei muss der Gesprächsfluss nicht zwangsläufig zum Stocken kommen.
Hempel war elf Jahre alt, als bei ihm leichte Symptome des Tourette-Syndroms auftraten, berichtet er. Meist jedoch zeigen sich die ersten Anzeichen der Erkrankung bereits im Alter von sieben bis acht Jahren. Oft entwickeln die Kinder einfache Tics, die sie selbst oft nicht wahrnehmen. Seltener beginnt das TS abrupt mit mehreren Symptomen gleichzeitig. Die Tics eines typischen Tourette-Erkrankten zu beschreiben ist kaum möglich, da das TS bei jedem Betroffenen einen anderen Verlauf nimmt. Einzelne Tics können verschwinden oder durch andere ersetzt werden. Meist nehmen die Symptome allerdings mit fortschreitendem Krankheitsverlauf zu, um sich zwischen dem 16. und 26. Lebensjahr wieder abzumildern.
Tics Das Tourette-Syndrom ist eine Krankheit mit vielen Gesichtern, da jeder Betroffene eine Vielzahl persönlicher Tics entwickelt. Die Tics lassen sich zunächst in vokale und motorische Tics einteilen, die wiederum beide weiter in einfache und komplexe Formen unterteilt werden. Die motorischen Tics bilden die größte Gruppe. Einfache motorische Tics wie zum Beispiel Augenzwinkern, Lippenlecken und Grimassenschneiden werden von der Umgebung oft als Nervosität oder Eigenart fehlinterpretiert.
Komplexe motorische Tics wie Hüpfen, Küssen, Vorstoßen der Arme oder Berühren von Personen oder Gegenständen verlaufen insgesamt langsamer als die einfachen Tics und sind auch anders als diese auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet. Ein sowohl für die Betroffenen als auch ihre Umgebung sehr belastender motorischer Tic ist die Koproporaxie: das Zeigen unwillkürlicher, obszöner Gesten wie Masturbationsbewegungen oder auch das Zeigen des Mittelfingers.
Einfache vokale Tics wie zum Beispiel Summen, Husten, Keuchen oder Schniefen treten besonders im Anfangsstadium der Erkrankung auf. Diese Tics beeinflussen die Kommunikation des Betroffenen nicht so stark wie etwa die komplexen, vokalen Tics. Denn das Wiederholen von Wörtern, Phrasen und Wortfetzen, das Sprechen in wechselnder Tonhöhe und Lautstärke und auch das Herausschleudern von anstößigen und beleidigenden Schimpf- und Hasswörtern (Koprolalie) führt oftmals zu schwer wiegenden Verständigungsproblemen.
Wie weit der Weg zur Diagnose Tourette-Syndrom sein kann, weiß auch Hempel, der die Website www.tourette.de entwickelt hat und seit der Gründung der Tourette-Gesellschaft Deutschland auch dieser Selbsthilfegruppe angehört. Es ist nur schwer möglich, die Zahl der Menschen mit einem Tourette-Syndrom zu beziffern, die Angaben reichen von 40.000 bis 300.000. Viele Betroffene sind verunsichert, weil sie nicht wissen unter welcher Krankheit sie leiden. Auch Hempel wurde mit Kommentaren wie “Das wächst sich schon wieder aus...“ von Arzt zu Arzt geschickt, ehe die richtige Diagnose gestellt wurde.
Obwohl viele Kinder ihre Tics relativ locker nehmen, ist ein unterstützendes Umfeld für die weitere Entwicklung und den Umgang mit der eigenen Krankheit enorm wichtig. Kinder mit TS besitzen zwar etwa die gleichen geistigen Leistungsfähigkeiten wie andere Kinder ihres Alters, trotzdem haben sie oftmals Lernschwierigkeiten. Denn neben dem Kampf mit den Tics, die auch beim Lesen und Schreiben stören können, leiden 50 bis 60 Prozent der Kinder mit TS zusätzlich am Hyperkinetischen Syndrom.
Tics in der Schule
Ärzte und Betreuer müssen individuelle Lösungen finden, um den Kindern zu einem Leben „so normal wie möglich“ zu verhelfen. Hempel hatte Glück, er verbrachte seine Schulzeit in einem Internat, das ihm erlaubte, seine Möglichkeiten und Grenzen selbst auszutesten. Es galt: “ Erst einmal wie die anderen an allem teilnehmen und dann weitersehen“. Den Kindern ist es zum Beispiel auch eine große Hilfe, wenn sie die Möglichkeit haben, ihre Prüfungen und Klausuren in separaten Räumen abzulegen. Für ihn sei das wunderbar gewesen, sagt Hempel. Auch die rechtliche Seite spricht für eine solche Lösung, denn die Mitschüler müssen die Gelegenheit bekommen, ihre Prüfungen ungestört ablegen zu können. Neben der Benutzung von Schreibmaschinen oder Computern auf Grund von Lese- oder Schreibproblemen kann die Erlaubnis, den Klassenraum verlassen zu dürfen, wenn sich die Tics unüberwindbar angestaut haben, für viele TS-Kinder hilfreich sein.
Wie wenig die Mitmenschen über diese Erkrankung Bescheid wissen und wie verständnislos viele reagieren, hat Hempel selbst oft genug erlebt. Aber man wird ja auch nicht täglich zum Beispiel auf offener Straße oder im Supermarkt von fremden Menschen mit Worten wie „alte Sau, Arschloch“ oder noch weitaus gröberem Vokabular angeschrien. „Schreien Sie doch hier nicht so rum!“ oder den Vogel gezeigt zu bekommen sind deshalb Reaktionen, mit denen die TS-Kranken im Alltag umgehen müssen. Dass die Betroffenen nicht willentlich so agieren, könnten und wollten viele nicht verstehen, meint Hempel.
Eine ursächliche Behandlung oder gar Heilung des Tourette-Syndroms ist zurzeit nicht möglich, denn die Entstehung der Krankheit ist nach wie vor ungeklärt. Die zur Verfügung stehenden Medikamente werden entsprechend Art und Ausprägung der jeweiligen Symptome eingesetzt, um diese zu lindern. Meist kommen dabei Neuroleptika zum Einsatz. Zusätzlich können verhaltenstherapeutische Maßnahmen den Betroffenen helfen, ihre Tics unter Kontrolle zu bekommen und ihnen die Eingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern.
Computermäuse aus Edelstahl
Hempel hat seine Medikamente inzwischen abgesetzt - auch wenn er dadurch jetzt vermehrt mit seinen Tics zu kämpfen hat und ihn die Belastungen des alltäglichen Lebens zum Abbruch seines Studiums gezwungen haben. Doch das ist ihm ein „nicht ruhiggestelltes“ Leben wert. Nach drei Semestern Betriebswirtschaftslehre arbeitet er nun als Webdesigner von zu Hause aus und hofft, bald davon leben zu können. Doch ist auch die Arbeit in den eigenen vier Wänden nicht ohne Tücken. So haben die Tics bereits zahlreiche Opfer gefordert: über 100 Computermäuse und einige Tastaturen konnten ihnen nicht standhalten. Nur die lang ersehnte, gesponserte Edelstahltastatur samt –maus konnte da Abhilfe schaffen. Auch der Traum von einer Reise mit dem Caravan ist für Hempel nicht so ohne weiteres zu realisieren. Denn vor allem die Fenster müssten am besten wie teilweise auch zu Hause zunächst durch bruchsicheres Glas aus Polycarbonat ersetzt werden, um unter den Schlägen von Kopf und Armen nicht zu bersten.
Die von ihm ehrenamtlich entwickelte Website will wie die Tourette-Gesellschaft Deutschland über das Tourette-Syndrom aufklären und neue Wege zur Therapie und Behandlung aufzeigen. „Sie soll für Betroffene eine Hilfe nach innen und auch eine Darstellung nach außen sein“, sagt Hempel. “Es ist wichtig, ein Netzwerk zu entwickeln, damit die Menschen in der Gesellschaft mitgetragen werden.“
Selbsthilfegruppe Tourette-Gesellschaft Deutschland e.V.
Telefon (05 51) 39 67 27
Fax (05 51) 39 81 20
sekretariat@tgd.tourette.de
Die Adressen von Regionalgruppen finden sich auf der Homepage www.tourette.de.
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