Fliegen in Sirup und andere Missstände |
28.07.2003 00:00 Uhr |
Der Königlich-Preußische Regierungs- und Medizinalrat Dr. Johann Friedreich Niemann zu Merseburg gab im Jahr 1806 eine Anleitung zur Visitation von Apotheken heraus. Mit drastischen Beispielen über vorgefundene Missstände unterstrich er die Bedeutung seiner Revisionsanleitungen. Das Werk erlebte bereits 1831 die dritte Auflage.
„Ein Apotheker sollte keinen Materialhandel betreiben, denn der Krämergeist unterdrückt den Sinn für Wissenschaft und Kunst.“ Mit diesem Satz beginnt Niemann seine Ausführungen.
Von den 65 Paragrafen des Werks hat ein Paragraf die Abfassung eines Visitationsprotokolls zum Inhalt und erläutert einen beigefügten Vordruck. Dieses Protokoll – in lateinischer Sprache verfasst – ist vom pharmazeutischen Gehilfen des visitierenden Arztes auszufüllen. Es sei nötig, gibt der Autor zu bedenken, dass dem die Apotheke visitierenden Physikus ein Pharmazeut von Profession zur Seite gegeben werde. Mancher Fehler im Apothekenfach, welcher dem Physikus entgeht, kann vom geübten Pharmazeuten bemerkt werden.
Gegenstände der Apothekenvisitation sind das pharmazeutische Personal, die Apotheke nebst Zubehör und der Arzneivorrat. Die Visitationsgebühren trägt der Staatsfond. Im Preußischen erhält der revidierende Arzt 2 Taler Diäten und der pharmazeutische Kommissarius 1 Taler und 12 Groschen.
Zunächst hat der Apotheker die Art des Besitzes nachzuweisen und außer den Akquisitions-Dokumenten das Privilegium sowie das Approbationspatent vorzulegen. Hat der Apotheker die Offizin in Pacht, ist der entsprechende Vertrag vorzuweisen, um beurteilen zu können, ob er “im Stande sey, dabei zu bestehen”. Dann müssen vorhanden sein: die neueste Ausgabe der Landespharmacopoe, die Apothekerordnung sowie die Arzneitaxe, um nur einige der erforderlichen Gesetzeswerke zu nennen.
Niedrigpreise geschäftsschädigend
Namentlich aufzuführen sind Lehrlinge und Gehilfen. Sie haben zunächst einen Abschnitt der lateinischen Landespharmacopoe in die Muttersprache zu übertragen und dann eine leicht erkennbare Pflanze zu bestimmen beziehungsweise einen chemisch-pharmazeutischen Versuch durchzuführen und zu erläutern.
Im Elaborationsbuch ist nachzusehen, ob es von den Gehilfen regelmäßig geführt ist, die bereiteten Mittel in der erforderlichen Menge hergestellt und auch nicht zu alt sind. Dann ist es „unterrichtend“, wenn die Menge der Ingredienzien, der Arbeitslohn, der Brennholzbedarf und danach die Preise der bereiteten Präparate angegeben sind.
Bei den noch in der Apotheke vorhandenen Rezepten wird geprüft, ob die Ärzte nach den Regeln der Kunst und den Gesetzen vorgegangen sind. Denn, so wird warnend angeführt, Zinkblumen und verdünnte Schwefelsäure gleichzeitig als Getränk zu verordnen, wie nachweislich geschehen, führe zu schweren Schäden. Rezepte sind vom Rezeptar zu überprüfen und dann den Vorschriften entsprechend auszuführen. Danach ist der Preis der Taxe gemäß zu erstellen. Durch zu geringe Preise entsteht der Verdacht des Verkaufs schlechter Ware oder der unlauteren Absicht, die Geschäfte benachbarter Apotheken zu schädigen. Nur bei Rezepten für die Armen ist eine geringere Taxe, als die Gesetze es fordern, nicht nur erlaubt, sondern auch löblich. Der nächste Abschnitt des kleinen Werkes führt von der Anlage der Apothekengebäude durch die einzelnen Arbeitsräume nebst Gerätschaften.
Die Lage der Offizin „gegen Mitternacht“ scheint die vorzüglichste zu sein; sie ist im Sommer kühl und vor dem Andrang der Fliegen gesichert. Weiter führt Niemann aus, sei die Offizin so breit, dass auf beiden Seiten des Eintritts ein Tisch hinläuft. Der eine sei für den Rezeptarius, der andere für den Handverkauf bestimmt. Auf den Rezeptiertisch gehören als Arbeitsgeräte Waagen, Gewichte, Mörser, Mensuren sowie Hornlöffel. Auch sind Waagen mit Kokosschalen für scharfe Substanzen sowie Handmörser aus Serpentinstein in Bereitschaft zu halten, ebenso eine hölzerne Pillenmaschine.
Spinnen in Kräuterkästen
Die Behältnisse in der Officin sind alphabetisch geordnet aufzustellen, jeder Name der Mittel ist mit Ölfarbe aufzutragen. Die Büchsen aus Lindenholz sind die Besten. Glas- oder Porzellangefäße eignen sich vorzüglich zur Aufbewahrung. Von englischen Fayencen wird jedoch wegen ihres Blei enthaltenden Überzugs abgeraten. Ordnung und Sauberkeit sollten allgemein herrschen. Wo die Öle an den Kruken Bahnen bilden, wo Spinnen in den Kräuterkästen die Ecken mit ihrem Gewebe überziehen, wo Fliegen in den Sirupkruken herumliegen, kann von beidem nicht die Rede sein.
Die Materialkammer und der Kräuterboden seien trocken und nicht zu sehr der Sonne auszusetzen. „Noch neulich fand ich“, lässt Niemann wissen, „einen Teil der Materialkammer unter dem Dache so der Sonnenhitze ausgesetzt, dass die dadurch geschmolzene Aloe durch den Kasten gedrungen war.“
Besondere Aufmerksamkeit soll der Visitator dem Giftschrank schenken und prüfen, ob auch keine anderen Mittel dort aufbewahrt werden. Denn, so führt der Medizinalrat an: „Ich fand in dem Giftschrank einer Officin mit Zucker überzogene Pomeranzenschale und Zimt unter Verschluss, damit die Lehrlinge nicht daran naschen sollten.“ Auch zeigte sich gefährliche Sorglosigkeit bei der Aufbewahrung direkter Gifte. In einer Offizin stand das Gefäß mit Arsenik auf einem Brett über einer Essigkruke und der vergiftete Essig raubte einem Menschen das Leben.
Opiumtinktur statt Chinaaufguss
Zu der umfangreichen Ausstattung des Laboratoriums gehören jede Art Retorten, Phiolen, ein Schmelzofen mit Blasebalg nebst Feuerwedel sowie Pfannen und Kessel. In Trommsdorffs Journal wird die Bereithaltung einer Luftpumpe und einer Elektrisiermaschine verlangt, wird in einer Fußnote erwähnt. Beide gelten als große Heilmittel. Die meisten Ärzte haben jedoch weder Zeit noch Übung, sie entsprechend anzuwenden. In größeren Apotheken könnten Gehilfen angeleitet werden, sie im Bedarfsfall einzusetzen.
An Gefäßen, in denen Arzneien durch Digestion oder Infusion bereitet werden, müssen die Namen der betreffenden Kranken sicher vermerkt sein. Die Vernachlässigung dieser Vorschrift führte in einem Falle zur Verwechslung von Chinaaufguss mit Opiumtinktur, was einen Kranken das Leben kostete.
Der Arzneikeller sei weder warm noch feucht. Die Fässer für Weinessig, Branntwein und Wein dürfen nicht mit Schimmel überzogen sein. Die Aetheres sind in kleinen Flaschen und diese getrennt voneinander aufzubewahren. Bei Licht kann durch „schnelle Zündung“ leicht ein großes Unglück geschehen.
Der dritte und umfangreichste Abschnitt befasst sich mit den Arzneimitteln. Wenigstens 8000 Menschen solle der Apotheker nachweisen können, die mutmaßlich ihren Arzneibedarf aus seiner Offizin besorgen. So sollen damit die gewöhnlichen, elenden, kleinen “Arzneiboutiquen” nicht zum Nachteil der Staatsbürger vermehrt werden. Vor Untersuchung mehrerer einzelner Mittel haben die Visitatoren alle vorhandenen Arzneimittel durchzusehen. Sie vermerken zunächst die Defekte, sodann sondern sie die völlig untauglichen aus und unterziehen die verdächtigen einer näheren Prüfung.
Als schädliche Beimischungen bei Präparaten gelten besonders Arsenik, Kupfer, ätzendes salzsaures Quecksilber und Blei. Zudem sind kostbare Arzneien ihres hohen Preises öfter der Verfälschung mit Terpentin vermengt. Der Syrupus Succi Citri wurde mit Weinessig anstelle von Zitronensaft bereitet und dem Spiritus Formicarum wurde der pikante Geruch von Salmiakgeist beigebracht und also gefälscht. Ganz unentbehrlich bei Apothekenrevisionen ist für die Prüfung auf Arsen ein Lötrohr, dessen Anwendung von Berzelsius beschrieben hat, führt der Verfasser an.
Die Aufstellung der Mittel, die mit einigen Ausnahmen in der preußischen Apotheke bei Revisionen vorhanden sein sollten beginnt mit dem Acetum aromaticum und endet beim Zincum sulphuricum. Sie enthält genaue Hinweise über Aussehen und Beschaffenheit der Arzneimittel, sowie Anweisungen zu deren Überprüfung, zum Beispiel Cinnabaris: Es sei lebhaft karmoisinrot aussehend und aus feinen Nadeln bestehend.
Verfälschungen: Mennig, Eisenkalk, Drachenblut, roth gebrannte eisenartige Thonerden und rother Arsenik. Prüfung: Vor dem Lötrohr auf Arsenik. Digestion mit Alcohol auf Drachenblut.
Cortex China regiae: Ein Dekokt der echten Königs-Chinarinde ergibt nach Versetzung mit salzsaurem Eisen eine grüne Färbung. Ein Dekokt von minderwertigen Chinarinden ergibt mit salzsaurem Eisen einen schwarzen Niederschlag.
Sechs Gulden für Schlamperei
Auf Grund des Revisionsberichtes erlässt die vorgesetzte Behörde die nötigen Verfügungen, verhängt aber auch die gesetzlichen Strafen: In Holland zahlt der Apotheker beispielsweise für jede nicht gehörig gezeichnete Büchse 1 Gulden Strafe, für jeden Defekt 3 Gulden, für jedes untaugliche Mittel 6 Gulden.
Diese Forderungen an den korrekten Apothekenbetrieb einer früheren Zeit zeigen auch noch Grundforderungen von bleibender Bedeutung. 1241 fand nach etwa 10-jähriger Entstehungszeit ein gewaltiges Gesetzeswerk des Stauferkaisers Friedrich II. (reg. 1212 bis 1250) seinen Abschluss. Die so genannten Konstitutionen enthalten in den Medizinparagrafen 44 bis 47 des Buches III die Forderung der Trennung des Berufes von Arzt und Apotheker. Wesentliche Bestimmungen werden angeführt, die noch heute von Bedeutung für die Beaufsichtigung der Arzneiherstellung sind. So auch die behördliche Überwachung der Apotheken: die Apotheken-Revision.
Literatur
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