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Mehr als Medikamente

16.07.2001  00:00 Uhr
Nachsorge

Mehr als Medikamente

von Ulrike Abel-Wanek, Eschborn

Welche Ängste, Hoffnungen und Belastungen Familien mit schwerst- und chronisch kranken Kindern durchleben, können Außenstehende nur ahnen. Experten formulieren deshalb schon lange die Forderung, nach den Fortschritten in der kurativen Medizin, auch die psychosoziale Betreuung betroffener Eltern und Kinder auszuweiten. Was braucht ein Mensch, um eine Krankheit ganzheitlich zu bewältigen? Antwort darauf gibt zum Beispiel der Augsburger "Bunte Kreis". Die Initiative startete vor zehn Jahren ein erfolgreiches und nachahmenswertes Nachsorgemodell.

Der siebenjährige Matthias leidet an Mucoviszidose und hat trotz strenger Diät immer wieder mit Magen-Darm-Infektionen zu kämpfen. Eine Ernährungsberaterin des Bunten Kreises schulte ihn spielerisch und stimmte mit den Eltern den Speiseplan ab. Heute hat die ganze Familie wieder Spaß am Essen. Dem zehnjährigen, krebskranken Sebastian half eine Spieltherapie, seine Ängste vor Krankheit, Tod und Abschied zu verarbeiten.

Im Mittelpunkt steht der Patient

Eine Handvoll Mitarbeiter der Kinderklinik Augsburg wurde Anfang der Neunziger aktiv. Stationäre Aufenthalte sollten nicht nur verkürzt werden, weil sie teuer sind. Die Versorgung eines kranken Kindes im Krankenhaus belastet die Familien darüber hinaus zeitlich, finanziell und sozial. Geschwisterkinder kommen häufig zu kurz, der Familienzusammenhalt beginnt nicht selten zu bröckeln. Gemeinsam mit betroffenen Eltern gründeten die erfahrenen Praktiker deshalb das "Augsburger Case-Management- und Nachsorgemodell mit dem Ziel, die Lücke zwischen Hightech-Medizin und Kinderzimmer zu schließen. Im Zentrum der Bemühungen sollte immer das kranke Kind mit seiner Familie stehen. Aus gutem Grund: Mit psychosozialen, finanziellen oder juristischen Problemen durch die Betreuung schwerkranker Kinder stehen die Betroffenen alleine da. Eine ausgeweitete, verbesserte Versorgung des Patienten über das medizinisch Notwendige hinaus wird von den Leistungserbringern meist nicht finanziert. Speziell nach der Entlassung aus der Klinik treten Versorgungslücken auf, die der Augsburger Bunte Kreis bis heute mit großem Engagement und Erfolg versucht zu schließen. Die derzeit rund 70 Mitarbeiter verschiedener Fachrichtungen, davon 26 hauptamtlich, betreuten im letzen Jahr rund 1000 Familien, zum Teil über mehrere Monate. Pflege, psychosoziale Nachsorge sowie spiel- und familientherapeutische Hilfen stehen auf dem Programm. Auch im schlimmsten Fall, wenn ein Kind stirbt, begleitet der Bunte Kreis durch die schwere Zeit des Sterbens und der Trauer. Ein Sozialfonds hilft, wenigstens finanzielle Nöte zu lindern. Bereits in der Klinik nimmt eine so genannte "Case-Managerin" Kontakt mit den Eltern auf. Sie organisiert und vernetzt alle für den Fall (case) notwendigen Helfer und bespricht mit den behandelnden Ärzten, welche Voraussetzungen für eine frühestmögliche Entlassung erfüllt sein müssen.

Die Nachsorgearbeit finanziert sich aus verschiedenen Quellen. In einem bisher einmaligen Vertrag mit den Primärkassen wurde beschlossen, Nachsorgeleistungen nach § 43 SGB V abzurechnen. Staatliche Zuschüsse fließen für die offene Behindertenarbeit, Sponsoren tragen die Verwaltungskosten für den Verein und übernehmen die Spendenwerbung. Spenden, Mitgliedsbeiträge und Stiftungserträge decken den Rest.

Hilfe aus der Industrie

Unterstützung bekam das aktive und innovative Augsburger Nachsorgemodell 1998 aus der Industrie. Mit dem ebenfalls in Augsburg ansässigen pharmazeutischen Unternehmen Betapharm Arzneimittel entstanden aus einem anfänglich "normalen" Sponsoringprojekt außer einer Nachsorgestiftung und einem gemeinnützigen Institut für sozialmedizinische Forschung und Entwicklung weitere überregionale Projekte nach dem Augsburger Vorbild. 1999 entwickelten die Sozialeinrichtungen und die Pharmafirma die Idee zu einem Augsburger Nachsorgesymposium, das Ende Juni 2001 bereits zum zweiten Mal sehr erfolgreich stattfand. Der sozialpädiatrische Kongress mit rund 500 Teilnehmern bot Wissenschaftlern, die an Themen zur Nachsorge von schwerst- und chronisch kranken Kindern und Jugendlichen arbeiten, ein Forum und gab Einblicke in laufende Modellprojekte und aktuelle Forschung.

Die Symposiumstage widmeten sich außer der Nachsorge und dem Case-Management auch der Palliativ- und Hospizbegleitung von Kindern. Professor Dr. Christoph Student, Leiter des Hospizes Stuttgart, betonte die Unterschiede zwischen der Hospizbegleitung von Kindern und Erwachsenen. Grundsätzlich sei der Kindertod als Ausnahme anzusehen. Der Bedarf an Kinderhospizen sei nicht sehr groß, denn viele Kinder sterben plötzlich, zum Beispiel infolge eines Unfalls, oder könnten zuhause begleitet werden. Hospizbedarf bestünde vor allem bei degenerativen, zerebralen Erkrankungen zur Entlastung der Eltern.

Ich bin doch nicht blöd

Die Begleitung schwerkranker Kinder und ihrer Familien geht, bei aller Wissenschaftlichkeit, unter die Haut. Dr. Ruthmarijke Smeding, Leiterin des Instituts für Lehren und Lernen im Gesundheits-, Palliativ- und Trauerbereich berichtete, dass Kinder sehr genau spüren, wie es um sie steht. Und dass man als Erwachsener den kindlichen Äußerungen ehrlich begegnen muss. "Ich bin doch nicht blöd", zitierte sie einen 12-Jährigen. "Ich weiß schon lange, dass ich sterben muss, und am meisten ärgert mich, dass keiner sagt, was los ist." Ausgehend von neuen Forschungsergebnissen forderte sie, die Geschwister einzubeziehen und die ganze Familie klar über die Situation zu informieren. "Wir müssen weg vom ' Beschützen vor' hin zum ' Befähigen zu'." Dafür sei vor allem eines nötig: Ärzte und Pflegende über das Was und Wie der Palliativmedizin auszubilden.

Grenzen vermeiden

Funktionierende Nachsorgekonzepte verlangen von allen Beteiligten die Überwindung alter Vorbehalte und Strukturen. Die Kostenträger halten sich bei der Übernahme ambulanter Kosten immer noch zurück, die Grenzen zwischen medizinischem und sozialem System sind starr. Um Patienten das "Loch" nach der Therapie zu ersparen, müssen Übergänge geschaffen werden zwischen physischen, psychischen und sozialen Aspekten. Das spart sogar Kosten wie die übergreifende Begleitung von der Klinik in die ambulante Versorgung nach Vorbild des Augsburger Modells zeigt. Mehr sozialpädiatrische Forschung forderte deshalb die Preisträgerin des Stefan-Engel-Preises der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, Dr. Ute Thyen von der Unikinderklinik Lübeck. Sie fand in einer Studie einen hohen, noch nicht erfüllten Bedarf vor allem der psychosozialen Beratung. Mit mehr als dem sprichwörtlichen englischen Humor machte ein britischer Patient auf seine Bedürfnisse aufmerksam: "Caution - handle with care - human beeing" (Achtung - vorsichtig behandeln - Mensch) stand auf einem Plakat, das er bei jedem Klinikaufenthalt über sein Bett hängte.

  Das Beta-Institut hat einen bundesweiten Telefonservice für Sozialfragen im Gesundheitssystem aufgebaut. Beim Betafon können Apotheker, Ärzte und andere Fachleute ebenso anrufen wie Patienten und Angehörige. Psychosoziale und sozialrechtliche Fragen werden aufgenommen, recherchiert und beantwortet unter der Nummer 
(0 18 05) 2 38 23 66.

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