Eintritt nach Gesichtskontrolle |
21.06.2004 00:00 Uhr |
Fünfzehn Jahre nach der Gründung der französischen Organisation Pharmaciens sans Frontières wurde im Jahr 2000 in Deutschland die Hilfsorganisation Apotheker ohne Grenzen ins Leben gerufen. Inzwischen zählt der Verein rund 300 Mitglieder - meistens Pharmazeuten aus öffentlichen Apotheken, Krankenhausapotheken und der Industrie. Im Jahr 2002 erreichte die Organisation ein Spendengesuch aus Argentinien.
Apothekerin Carina Vetye-Maler aus München übernahm die Leitung des Projekts. Selbst aus Buenos Aires stammend, kannte sie die fatale wirtschaftliche Entwicklung des Landes, die seit der Militärdiktatur in den 80er-Jahren bis heute tiefgreifende Auswirkungen auf alle Lebensbereiche der Bevölkerung hatte.
Neue Armut
Exportprobleme, Steuerflucht und hohe Auslandsverschuldung, politische Fehlentscheidungen einer schwachen Regierung und Korruption führten innerhalb eines Jahrzehnts zum Verfall eines ehemals reichen Landes. Ein Großteil der Mittelschicht ist in die Armut abgerutscht, weit über 50 Prozent leben unterhalb der offiziellen Armutsgrenze, und die reale Arbeitslosigkeit liegt zurzeit bei etwa 25 Prozent.
Auch im Gesundheitswesen klafft ein breiter Spalt zwischen Arm und Reich. Staatliche Krankenhäuser haben nur wenige Mittel, um die Bevölkerung zu versorgen. Menschen ohne Geld für ärztliche Behandlungen dürfen kaum auf Hilfe hoffen. Der Kampf ums Überleben zeigt sich in enorm hoher Kriminalität, besonders in der Hauptstadt Buenos Aires. Öffentliche Apotheken sind durch Gitter gesichert, da sie immer wieder überfallen werden. Bei einigen ist Sicherheitspersonal anwesend, bei anderen erfolgt die Eintrittserlaubnis nur einzeln nach Gesichtskontrolle .
Pappe gegen Pesos
Es liegt in einem der ärmsten Gebiete am Rand von Buenos Aires: das Gesundheitszentrum auf einem Kirchengelände von San Pantaleón, das engagierte Ärzte für das Hilfsprojekt im Mai 2002 gründeten. Die Bevölkerung hier lebt von Betteleinnahmen der Kinder und von der Arbeit als „Cartoneros“. Sie durchwühlen den Müll der Stadt nach Pappe und Papier und bekommen dafür ein paar Pesos. Strom für Licht und Fernsehen in den Baracken wird illegal von oberirdischen Leitungen abgezweigt. Gas ist teuer, deshalb wird über dem Holzfeuer gekocht. Nur ein Teil des Viertels hat Trinkwasser, und die mangelhafte Abwasserentsorgung führt häufig zu Infektionskrankheiten. In den kalten Jahreszeiten lässt die Feuchtigkeit in den ungeheizten Räumen die Anzahl von Atemwegserkrankungen bei Kindern und Jugendlichen in die Höhe schnellen. Dazu kommen die psychischen Belastungen einer Gesellschaft, der es bis vor zehn Jahren noch verhältnismäßig gut ging.
Im Vorderhaus auf dem Kirchengelände befinden sich Arztpraxen und ein Kindergarten, im Hinterhaus ist die kleine Apotheke untergebracht. Jeden Vormittag in der Woche kommt ein Arzt aus einem innerstädtischen Krankenhaus nach San Pantaleón. Das private Krankenhaus stellt die Mediziner für diesen Dienst von der Arbeit frei und leistet damit einen großen Beitrag zur Hilfe für die Armen. In der Apotheke arbeiten abwechselnd zwei Apothekerinnen ehrenamtlich. Sie sind pensioniert und erhalten lediglich die Fahrtkosten. Verständnisvoll gehen sie mit den Wünschen und Bedürfnissen der Kunden um, halten andererseits aber auch alle mit Apotheker ohne Grenzen abgesprochenen Regeln ein. So werden Arzneimittel nur auf Rezept abgegeben, es gibt keine Ausnahme, auch nicht bei verschreibungsfreien Produkten. Die Patienten müssen nach dem obligatorischen kostenfreien Arztbesuch für ihre Medikamente einen Peso (umgerechnet etwa 30 Cent) zahlen, was wie in Deutschland nach Einführung der Rezeptgebühr zu einem verantwortungsvolleren Umgang mit den Arzneimitteln führt. Wer wirklich keine Münze in der Tasche hat, erhält sein Arzneimittel trotzdem. Über die Abgabe jedes Medikaments wird präzise Buch geführt
Zur Zeit arbeitet man in der Arztpraxis an einer Datenbank, um die Erfolge der Behandlungen statistisch erfassen und auswerten zu können. Ein neuer Computer macht das möglich. Außerdem werden Statistiken zu den Indikationen Hypertonie, Diabetes und Familienplanung erstellt.
Juan Caries und Don Bactus
Seit April läuft in einem nahegelegenen Kinderhort für Kinder und Jugendliche ein einjähriges Zahnprophylaxeprojekt, bei dem Eltern, Lehrer und Schüler mitwirken. Apotheker ohne Grenzen unterstützt dieses Projekt mit der Bereitstellung von 500 Zahnbürsten, Zahnpasten, einem Theaterstück für Kinder über „Juan Caries und Don Bactus“ und weiterem anschaulichen Material. Die Teilnehmer erhalten zu Beginn eine Zahnbürste und eine Zahnpasta. In regelmäßigen Abständen werden sie nach ihren neuen Putzgewohnheiten befragt, untersucht und erhalten nach drei Monaten eine neue Bürste. Dieses Projekt musste intensiv geplant werden. Es waren Probleme zu berücksichtigen, von denen Westeuropäer keine Vorstellungen haben: Viele Menschen haben keine Badezimmer. Dort, wo doch Waschgelegenheiten sind, befindet sich nicht unbedingt eine Ablage für die Bürste. Neid kommt innerhalb der Familie auf, wenn einer eine Zahnbürste besitzt und die anderen nicht. So wird die ganze Aktion innerhalb des Horts durchgeführt, die Bürsten verbleiben dort vor Ort.
Disziplin auf sechs Quadratmetern
Die kleine Apotheke ist ein Einmannbetrieb. Aus Spendengeldern werden über eine öffentliche Apotheke in Buenos Aires die Arzneimittel als Klinikpackungen gekauft. Der Einkauf bei einheimischen Firmen unterstützt die Wirtschaft. Ein einheitliches Sortiment fördert die Compliance der chronisch kranken Patienten, da sie nicht jedes Mal ein anderes Ärztemuster bekommen.
Den Ärzten stehen für ihre Verordnungen etwa 50 verschiedene Wirkstoffe zur Verfügung. Für spezielle Indikationen gibt es einen Schrank mit sortierten Ärztemustern, mit denen die Apothekerinnen geschickt substituieren können.
Einen Computer gibt es nicht. Wie früher muss alles aufgeschrieben werden. Sorgfältig werden die abgelieferten Rezepte gesammelt, die abgegebenen Arzneimittel auf Patientenkarten notiert und hieraus jeden Monat der neue Bedarf ermittelt, der mit den Medizinern besprochen und dann der versorgenden Apotheke übermittelt wird. Diese Tätigkeit erfordert ein hohes Maß an Genauigkeit, das Arbeiten in einer sechs-Quadratmeter-Apotheke Geduld. Da Not erfinderisch macht, gibt es eine große Sorgfalt bei der Einhaltung der Sicherheitsvorschriften. Die Rezepte sowie die Karteikarten der Kunden stehen unter strenger Bewachung und sind lediglich für die beiden Apothekerinnen und den versorgenden externen Apotheker zugänglich. Selbst die Ärzte dürfen nur vor Ort Einsicht nehmen. Würden sie Rezepte oder Karteikarten in ihr Büro stellen, wären schnell die verschiedensten Änderungen vermerkt, denn auch das Hilfspersonal der Ärzte hat bedürftige Nachbarn und Freunde...
Durch die zuverlässige Arbeit der einheimischen Apothekerinnen ist das Projekt von Apotheker ohne Grenzen eines der Hilfsprojekte in Argentinien, in dem kein Geld in den Taschen der Mitarbeiter versickert oder in der Organisation hängen bleibt. Einige Menschen, denen es selbst noch gut geht, arbeiten ehrenamtlich tatkräftig mit. Die perfekte Organisation ist nicht zuletzt Carina Vetye-Maler zu verdanken, die als Argentinierin die Schwierigkeiten und Probleme gut einzuschätzen weiß. Unter Einhaltung aller Vorsichtsmaßnahmen und mit einer gesunden Mischung aus Vertrauen und Skepsis wählte sie ihre Mitarbeiter aus. Das Projekt ist stimmig: Die Auswahl der Arzneimittel ist übersichtlich und nicht zu breit gefächert. Die Ärzte haben, bedingt durch die knappe Auswahl der Wirkstoffe, klare Verschreibungsvorgaben.
Apotheker ohne Grenzen unterstützt von Armut betroffene Länder bei Entwicklungsprojekten zum Aufbau eines autonomen Gesundheitswesens. Aus Mitgliedsbeiträgen, Spenden und Fördergeldern werden im jeweiligen Land Arznei- und Verbandmittel, Krankenpflegeartikel und medizinische Geräte beschafft, mit denen einheimisches Personal die Bevölkerung versorgt. Bei Bedarf beteiligt sich der Verband auch spontan an Notfalleinsätzen, beispielsweise nach Naturkatastrophen.
Anschrift der Verfasserin:
Juliane von Meding, Am Waldrand 11, 85354 Freising.
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