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Die pure Lust am Schauen

06.05.2002  00:00 Uhr
Ingelheimer Tage

Die pure Lust am Schauen

von Ulrike Abel-Wanek, Eschborn

Mit ihren kleinen, aber feinen Ausstellungen locken die Ingelheimer-Tage alljährlich Kunstfreunde in die rheinland-pfälzische Provinz. Unbedingt lohneswert anzusehen sind zurzeit 70 afrikanische Figuren aus einer Hamburger Privatsammlung.

"Die Skulptur muss stärker sein als mein Unwille, sie zu bezahlen". Der Satz des im letzen Jahr verstorbenen Kunstsammlers Dieter Scharf, in dessen Wohnräumen die Figuren noch kürzlich wie ein "Sammelsurium" standen, bringt den Eindruck der gelungenen Ausstellung im Ingelheimer Alten Rathaus auf den Punkt: Die starke Ausdruckskraft der Figuren zieht den Betrachter direkt in ihren Bann. Die Plastiken sind eine Augenweide und machen pure Lust zu Schauen. Im Mittelpunkt stehen visuelle und sinnliche Wahrnehmung.

Der Sammler, der Neuland betrat, als er begann, sich für afrikanische Kunst zu interessieren, kaufte immer nur nach Gefallen, nie nach ethnologischen Kriterien. Er suchte ausschließlich das Objekt. Eine umfangreiche Bibliothek folgte erst später. Vergeblich hält man in den Ausstellungsräumen Ausschau nach Erklärungen zum ethnologischen Hintergrund der Skulpturen oder ihrem soziokulturellen und religiösen Umfeld. Erläuterungen sind im begleitenden, sehr gut redigierten und gestalteten Katalog zu finden.

Die Präsentation hat wohltuenden Mut zur Lücke. Bedeutung und Funktion der Kunstwerke verstellen nicht den Blick auf ihren autonomen, ästhetischen Charakter. Afrikanische Kunst schätzen zu lernen liegt weniger in der Kenntnis ihrer kulturellen Zusammenhänge als vielmehr in der persönlichen Begegnung mit ihr.

Schnörkellose, dezent ausgeleuchtete Vitrinen im Erdgeschoss gewähren einen Rundum-Blick auf die fein geschnitzten und zum Teil stark verzierten Figuren. Meist handelt es sich um Holzplastiken, in der Regel kaum älter als 100 bis 150 Jahre. Ausnahme ist ein Terrakotta-Kopf aus dem 14. oder 15. Jahrhundert aus dem Königreich Ife (Nigeria). Die naturalistische Darstellung von Kunstwerken aus Ife verursachte bereits 1910 bei den ersten Europäern auf der Suche nach Platos untergegangenem Atlantis ungläubiges Staunen.

Traditionelle Kunst Afrikas - das sind fast ausschließlich Skulpturen und Masken, die Malerei ist eher unbedeutend. Sie ist eine zweckgebundene Kunst und eng verknüpft mit religiösen und sozialen Sitten und Gebräuchen. Ahnen- oder Kultfiguren waren beispielsweise wichtige Medien im Austausch mit überirdischen Kräften aus einer anderen, geheimnisvollen Welt. Sie stellten den Kontakt her zu Göttern, Geistern oder Ahnen. Ihre Funktion erhielten sie durch magische Substanzen, die ein Geistheiler in ihren Körper füllte. Einige Ausstellungsstücke weisen große Öffnungen an ihrem Torso auf und zeugen mit einer Patina aus Tierblut, Öl oder Nahrungsmitteln von ihrem früheren Gebrauch bei rituellen Handlungen.

Afrikanische Kunst führte lange ein Schattendasein in der europäischen Kultur. Erst die künstlerische Avantgarde um Picasso, Matisse, Vlaminck oder Derain machte sie Anfang des 20. Jahrhunderts gesellschaftsfähig und erhob die Kultobjekte nach hiesiger Vorstellung zur Kunst. Damit öffneten sich die Augen für eine ungewöhnliche Formensprache und einen Gestaltungsreichtum, der ästhetisch der europäischen Kunst in nichts nachsteht. Die so genannte "Kunst der Primitiven" steht mittlerweile hoch im Kurs und hat sogar "Einzug in die ehrwürdigen Hallen des Musée du Louvre in Paris gehalten", sagt Ausstellungsmacherin Dr. Patricia Rochard. Der Wert der in Ingelheim erstmals öffentlich ausgestellten Objekte ist mit einer zweistelligen Millionen-Summe nicht gering. Den waren Wert afrikanischer Kunst sah Picasso jedoch in ihrer Suggestionskraft und ihrem Erfindungsreichtum: "Meine stärkste künstlerische Emotion empfand ich, als ich der sublimen Schönheit afrikanischer Skulpturen begegnete."

 

Internationale Tage - Boehringer Ingelheim

Figuren Afrikas
28. April bis 7. Juli 2002

Altes Rathaus
Francois-Lachenal-Platz 1
55218 Ingelheim am Rhein

Info-Hotline (061 32) 4 04 60

Info@internationale-tage.de

Öffnungszeiten: Di. bis Fr. 10 bis 20 Uhr
Sa., So. und Feiertage 10 bis 18 Uhr
Montag geschlossen

 

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