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Sturmwarnung

20.10.2003  00:00 Uhr

Sturmwarnung

Hand aufs Herz: Blicken Sie noch durch? Kapieren Sie all die Details von Hartz eins bis vier? Können Sie unterscheiden und einwandfrei werten zwischen Kopfpauschale und Bürgerversicherung, Herzog-Ruck und Rürup-Rolle? Wer will da eigentlich was? Und wohin geht die Reise überhaupt? Fragen gibt’s viele. Antworten: Fehlanzeige.

Der Reform-Herbst fordert von allen Opfer. Jetzt sogar von den Rentnern. Warum auch nicht? Auch wenn gleich die Sachfragen von der Wahltaktik eingeholt werden. Am Montag war plötzlich von 19 Millionen Wählerinnen und Wählern die Rede – 19 Millionen Rentnern, Tendenz stark steigend. Interessensvertreter der Rentner drohen offen mit ihrem Einfluss. Die Politik werde bei der nächsten Wahl die Quittung für ihre Vorhaben bekommen.

Dabei trafen Schröder und Co. eine der wenigen vernünftigen Entscheidungen dieser Legislaturperiode. Allerdings: In diesem Zusammenhang von Mut zu sprechen, wäre verwegen. Die Verzweiflung steht der Regierung ins Gesicht geschrieben. Unser Staat ist pleite, die Sozialkassen leer, die Regierung ratlos.

Nach der Sternstunde mit Seehofer muss Superministerin Schmidt wieder ran. Nun müssten „auch die Rentner ein bisschen was dazu tun“. Das gehe nicht mehr anders. Und plötzlich ist sie ganz nah dran an einem, dem sie noch vor Wochen jedweden Verstand absprach: dem Chef der Jungen Union, Philipp Missfelder. Der hatte den Generationenstreit recht unbekümmert heraufbeschworen und seine jungen Hände in eine klaffende Wunde gelegt, die Sozialminister Norbert Blüm 16 Jahre lang leidlich zugetextet hatte: „Die Rente ist sicher.“

Haben Sie dies jemals geglaubt? Wohl ebenso wenig, wie Sie an blühende Landschaften geglaubt haben.

Blüm entschuldigt nur, dass auch seine Nachfolger nicht wussten, was sie tun sollen. Riesters Jahrhundert-Rente ist das Papier nicht wert, auf dem sie arg- und achtlos niedergeschrieben wurde. Das Steuerloch dürfte um einiges größer werden, wenn Lebensversicherungen den Einzahlern kaum mehr etwas ausschütten werden - außer Verluste und roten Zahlen.

Es bleibt die Hoffnung auf den reformierten Jobmotor Gesundheitswesen. Der kam vergangene Woche in die Reparaturwerkstatt Bundesrat. Aber leider wird dort freitags nicht mehr repariert. Zumindest gilt diese Regelung für Papiere, die jenseits von Gut und Böse in Konsensrunden ausgehandelt wurden. Die Lust, eigene Fehler zu beheben, hält sich bei den Beteiligten in Grenzen. Und sogar die Konsens-Spielverderber der FDP ließen sich zum Durchwinken überreden.

Fakt ist: Die Gesundheitsreform ist wie erwartet durch. Fakt ist auch, dass die Reformen weitergehen werden: Denn die wundersame Rettung des Sozialstaats lässt weiterhin auf sich warten. Von Kreativität keine Spur. Von Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit ganz zu schweigen. Das wird Konsequenzen haben – auch für die Gesetzliche Krankenversicherung. Kräftige Beitragssenkungen wird es im nächsten Jahr genauso wenig geben wie mehr Beitragszahler.

Wer also erwartet hatte, nach dem stürmischen Reformherbst werde es im nächsten Jahr wieder ruhiger, wird wohl enttäuscht. So schlimm es ist: Der Wind bläst den Leistungserbringern, also auch Apothekerinnen und Apothekern, weiter ins Gesicht.

Thomas Bellartz
Leiter der Hauptstadtredaktion
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