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Schmerz erlernen

20.01.2003  00:00 Uhr
PHARMACON DAVOS 2003

Schmerz erlernen

»Alles, was auf das zentrale Nervensystem einwirkt, hinterlässt Spuren«, erklärte Professor Dr. Walter Zieglgänsberger vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München. »So auch der Schmerz.« Wiederholte starke Reize verändern die beteiligten Nervenzellen in der Peripherie wie im ZNS: Der Schmerz prägt sich ein.

An der Weiterleitung und Verarbeitung von Schmerzreizen sind verschiedene Neurone beteiligt. Spezialisierte Sinneszellen, so genannte Nozizeptoren, in der Peripherie nehmen starke chemische oder mechanische Stimuli als Schmerzreiz wahr. Die Nozizeptoren, deren Zellkörper in den Spinalganglien zusammenliegen, geben diese Information an Neurone im Hinterhorn des Rückenmarks weiter. Von dort gelangt das Signal ins Gehirn, vor allem in Thalamus und Hirnrinde. »Wenn ein Schmerzreiz oft genug wiederholt wird, bildet sich eine Art Gedächtnis aus«, so Zieglgänsberger. Nervenzellen »erinnern« sich an vorangegangenen Schmerz und reagieren besonders stark auf folgende Reize.

Dieses als »wind-up« bezeichnete Prinzip ist besonders in den Nervenzellen des Rückenmarks zu beobachten. Ein von den Schmerzrezeptoren eintreffendes Signal löst im Neuron ein Aktionspotenzial aus, erklärte der Referent. Nach mehrfacher Wiederholung antwortet die Rückenmarkszelle auf ein Signal gleicher Intensität bereits mit zwei Aktionspotenzialen. Nach etwa 150 Reizen beginnt sie spontan, also ohne ankommende Signale zu feuern. Die Rückenmarkszelle meldet durch diese Spontanaktivität zum Beispiel schmerzhafte Verletzungen der Hand an das Gehirn, obwohl diese längst abgeheilt sind.

Verschiedene zelluläre und molekulare Prozesse sind dafür verantwortlich, dass Neuronen überaktiv werden: Das Genexpressionsmuster der Nervenzellen ändert sich, verschiedene Neurotransmitter und Ionenkanäle werden neu synthetisiert oder ihre Produktion unterdrückt, wodurch schließlich die Erregbarkeit der Zelle zunimmt. »Die Schmerzverarbeitung ist kein starrer, sondern ein sehr formbarer Prozess«, betonte Zieglgänsberger. Alle an der Signalweiterleitung beteiligten Neurone, von der Peripherie bis ins ZNS, können durch Veränderung ihrer Genexpression den Schmerz »erlernen«.

Warum wird aber nicht jeder akute Schmerz zu einem chronischen Leiden? Eine Reihe von »Antichronifizierungssystemen« wird auf akute Schmerzreize hin aktiviert, die die Entwicklung von neuronaler Überaktivität verhindern. Als Beispiele für diese körpereigenen Hemmmechanismen nannte der Mediziner das Endorphin- und das Endocannabinoid-System, Neurosteroide und GABAerge Interneurone.

Eine besondere Rolle scheint hier zudem der körpereigene Prostaglandinabkömmling Anandamid zu spielen, wie neueste Untersuchungen zeigen. Das Molekül bindet in limbischen Strukturen an den CB1-Rezeptor, der auch mit Cannabinoiden aus Haschisch und Marihuana interagiert. Versuchstiere, denen dieser CB1-Rezeptor fehlt, können unangenehme Erfahrungen wie Schmerzen nicht vergessen. Die verschiedenen Antichronifizierungssysteme sind noch wenig erforscht, bieten aber interessante potenzielle Ansätze zur Behandlung chronischer Schmerzen.

»Akute Schmerzen kann man mit Schmerzmitteln blockieren«, so Zieglgänsberger. »Doch an chronischen Schmerzen beißt sich jeder Arzt die Zähne aus.« Solche Patienten sollten auf jeden Fall einen Spezialisten aufsuchen.

Als wirksame Therapeutika nannte der Mediziner Antiepileptika, die überaktive Neuronen dämpfen, außerdem Antidepressiva, a2-Antagonisten, Cannabinoide und K+-Kanalöffner. Goldstandard in der Behandlung von chronischen Schmerzen seien immer noch die Opioide, so Zieglgänsberger. Die Substanzen seien hoch wirksam und sehr verträglich. Am besten sei allerdings eine präventive Schmerzbetäubung, so dass ein Schmerzgedächtnis gar nicht erst entstehen kann.

 

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