Im Alter einen klaren Geist bewahren |
09.10.2007 10:51 Uhr |
Im Alter einen klaren Geist bewahren
Von Bettina Sauer, Berlin
Das Gehirn erhält bis ins hohe Alter seine Leistungsfähigkeit, indem es kontinuierlich neue Nervenzellen bildet. Durch einen anregenden, aktiven Lebensstil kann jeder sein Gehirn dabei unterstützen.
Immer mehr Menschen werden immer älter. Sind damit altersbedingte Demenzen auf dem Vormarsch? Dieser Frage widmete sich auf dem Jahreskongress der Deutschen Neurologischen Gesellschaft in Berlin eine ganze Vortragsreihe. Die Referenten präsentierten dabei eine junge Erkenntnis. »Jahrzehntelang galt unter Wissenschaftlern die Überzeugung, das Nervengewebe im erwachsenen Gehirn sei fest und unveränderlich verknüpft«, sagte der Eröffnungsredner, Professor Dr. Klaus Berger vom Institut für Epidemiologie und Sozialmedizin der Uniklinik Münster. »Es könne höchstens untergehen, etwa im Zuge einer Demenz, sich aber keinesfalls regenerieren.«
Doch immer mehr Studien deuten darauf hin, dass auch das erwachsene Gehirn nicht etwa ausgewachsen ist. Vielmehr führt es laufend Auf- und Umbauarbeiten durch, um sich an neue Situationen anzupassen. Einen wichtigen Hinweis darauf lieferte 1997 eine Studie des Londoner Instituts für Neurologie. Die Forscher hatten die Gehirne von Taxifahrern im Kernspintomografen durchleuchtet und entdeckt, dass ihr Hippocampus im Vergleich zur Durchschnittsbevölkerung enorm vergrößert war. Dieser wacht als eine Art Türsteher darüber, welche Informationen im Langzeitgedächtnis gespeichert werden. Er spielt somit eine zentrale Rolle beim Lernen und der räumlichen Orientierung. Und er ist im Zuge der Alzheimer-Demenz besonders starken Verfallsprozessen unterworfen. Für Privatdozent Dr. Arne May vom Institut für systematische Neurowissenschaften am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf stellte sich damit die Frage nach Ursache und Wirkung: »Haben die Taxifahrer einen vergrößerten Hippocampus, weil sie ständig neue Wege finden und behalten müssen?«, fragte er im Gespräch mit der PZ. »Oder sind sie Taxifahrer geworden, weil ihr Hippocampus und damit ihr Ortssinn so gut ausgebildet ist?«
Um der Sache auf den Grund zu gehen, wies sein Team zwölf junge Erwachsene an, jonglieren zu lernen. Nachdem sie es konnten, zeigten Kernspinaufnahmen eine deutliche Vergrößerung zweier Hirnregionen, die für die Wahrnehmung von Bewegungsabläufen zuständig sind. Beide schrumpften nach drei Monaten Jonglierpause wieder, wie eine dritte Kernspinaufnahme zeigte. 2004 veröffentlichten May und Kollegen ihre Ergebnisse im Fachjournal »Nature«. 2006 ließen sie im »Journal of Neuroscience« eine weitere Studie folgen. Darin belegten sie anhand von Medizinstudenten in der Examensvorbereitung, dass auch Auswendiglernen bestimmte Hirnregionen vergrößert. »Dabei scheint sich also Nervengewebe zu verdichten«, sagte May. »Der Lernstoff wandelt sich dabei gewissermaßen in Materie um, Hirnregionen wachsen.«
Neue Nervenzellen entstehen
Zu dieser sogenannten Neuroplastizität tragen verschiedene Mechanismen bei, die vor allem durch Tierversuche belegt sind. Demnach erhöht sich, wenn das Gehirn kurzfristig Erinnerungen speichert, sekundenschnell die Menge von Botenstoffen und ihren Rezeptoren an den Schaltstellen der Nerven, den Synapsen. Um Eindrücke langfristig zu verankern, bilden Nerven aber auch innerhalb von Minuten bis Stunden neue Fortsätze und Synapsen. Und täglich entstehen sogar mehrere Tausend neue Neuronen. Sie entwickeln sich aus Stamm- und Vorläuferzellen im Gehirn, vernetzen sich über ein Geflecht an Fortsätzen und Synapsen mit dem umliegenden Gewebe und unterstützen fortan den Informationsfluss. »Sie sind sogar besonders vielseitig und leistungsfähig und tragen vermutlich entscheidend zur geistigen Leistungsfähigkeit bis ins hohe Alter bei«, sagte Dr. Anika Bick-Sander vom Berliner Max-Delbrück-Zentrum für Molekulare Medizin auf dem Neurologenkongress.
Der Leiter ihrer Forschungsgruppe, Professor Dr. Gerd Kempermann, hat vor allem an Mäusen maßgeblich an der Erforschung dieser sogenannten adulten Neurogenese mitgewirkt. »Mittlerweile konnte sie auch an mehreren Vogelarten, Affen, Ratten, selbst an Menschen belegt werden«, sagte Bick-Sander. Doch laufe sie, obwohl auch in anderen Hirnregionen neuronale Stammzellen vorkommen, offenbar nur im Hippocampus und im Riechkolben ab und lasse zudem mit zunehmendem Alter nach. Möglicherweise hängt damit die Abnahme der geistigen Leistungsfähigkeit im Laufe des Lebens zusammen, vor allem in puncto Reaktionsschnelligkeit, Orientierungssinn und Lernvermögen. »Aber«, beruhigte sie, »mittlerweile ist vielfach belegt, dass sich Neuroplastiziät, Neurogenese und geistige Leistungskraft bis ins hohe Alter durch bestimmte Verhaltensweisen unterstützen lassen. Wir können unser Leben lang etwas tun.«
Dabei gilt in aller erster Linie, das Gehirn seiner Bestimmung zuführen, ihm immer neuen Denk- und Lernstoff zu bieten. Berger sagte: »Sechs große deutsche Altersstudien deuten darauf hin, dass Senioren mit einer langen Schulausbildung seltener eine Demenz entwickeln als Senioren mit kurzer Ausbildung.« Zwar sei auch ihr Gehirn nicht vor der Bildung der krankheitsauslösenden Plaques geschützt. »Doch scheinen sie die Ausfälle besser ausgleichen zu können.«
Darüber hinaus profitiert das Gehirn auch nach der Schulzeit, vermutlich ein Leben lang, wenn es gefördert und gefordert wird, wie Mays Studien an den Jongleuren und Medizinstudenten zeigen. Doch braucht es abwechslungsreiche geistige Kost. Denn Nervennetze scheinen sich nur in beanspruchten Regionen zu verdichten, während der Rest des Gehirns unbeeinflusst bleibt. Wenn also ein Taxifahrer Hunderte neue Straßen lernt, verbessert sich nur sein Ortssinn, nicht aber sein allgemeines geistiges Leistungsvermögen.
Aktivität schützt vor Demenz
Auf vielfältige Weise anregen kann jeder sein Gehirn durch ein abwechslungsreiches Leben. Davon profitiert es auch im hohen Alter, wie Professor Dr. Ulman Lindenberger, Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, im Fachjournal »Psychology and Aging« zeigte. Demnach fiel bei alten Menschen der Verlust an geistiger Leistungsfähigkeit über acht Jahre geringer aus, wenn sie ein »sozial reiches Leben« führten, etwa regelmäßig kulturell aktiv waren, Hobbys ausübten oder soziale Kontakte pflegten. Und Kempermann veröffentlichte 1997 in »Nature« eine Studie, der zufolge sich im Hippocampus von Mäusen 60 Prozent mehr neuronale Stamm- und Vorläuferzellen fanden, wenn die Tiere mit vielen Artgenossen, wechselnden Spielzeugen, Laufrädern und Tunnelsystemen gesellig ihrem Entdeckerdrang nachgehen konnten. In späteren Studien bewies Kempermann, dass in dieser abwechslungsreichen Umgebung selbst betagte oder an Alzheimer erkrankte Mäuse weit mehr adulte Neurogenese aufwiesen und besser in Lerntests abschnitten als Kontrolltiere.
Doch scheint das Gehirn regelmäßig Pausen zu brauchen, um die einstürmenden Eindrücke zu ordnen. »Viele Studien belegen die wesentliche Funktion des Schlafes für die Gedächtnisbildung«, sagte Professor Dr. Jutta Backhaus von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Lübeck. »Doch besteht noch Unklarheit über den genauen Mechanismus.« Sie berichtete von ihren jüngsten Forschungsergebnissen, denen zufolge alte Menschen nur noch einen sehr geringen Tiefschlafanteil aufweisen und bei Gedächtnistests direkt nach dem Aufwachen weitaus schlechter abschneiden als junge Testpersonen. Auch Schlafstörungen wirkten sich in Backhaus' Untersuchungen deutlich auf die geistige Leistungskraft aus.
Das könnte unter anderem mit dem Stress einhergehen, den sie oft im Gefolge haben. »Er wirkt wie ein Bremsklotz auf Neuroplastizität und Neurogenese«, sagte Bick-Sander. So weisen zum Beispiel Patienten mit einer posttraumatischen Belastungsstörung eine deutlich verschlechterte Gedächtnisleistung und im Kernspintomografen eine Verkleinerung des Hippocampus auf. »Noch ist der Mechanismus ungeklärt«, sagte Bick-Sander. Einige Studien deuten auf eine Beteiligung von Glucocorticoiden hin. Sie kommen im Zuge von Stressreaktionen vermehrt frei und können die Ausschüttung von Nervenwachstumsfaktoren beeinträchtigen.
Sport hingegen kurbelte in verschiedenen Tierexperimenten die Ausschüttung dieser Wachstumsfaktoren an, sodass sie im Gehirn ihre Schutzwirkung entfalten und das Wachstum neuer Neuron unterstützen können. Das berichteten etwa Dr. Zsolt Radak und seine Kollegen von der Semmelweis University 2006 im Fachjournal »Neurochemistry international«, nachdem sie Ratten ein achtwöchiges Schwimmtraining verabreicht hatten. Und Dr. Henriette van Praag und Kollegen vom Salk Institute im kalifornischen La Jolla veröffentlichten 1999 eine Studie im Fachjournal »Proceedings of the National Academy of Science«, der zufolge schon wenige Tage Sport im Laufrad reichen, um die Neurogenese-Rate und das Lernvermögen bei Mäusen erheblich zu steigern. Beides gelingt selbst bei sehr alten Tieren.
Die Wirkung von Sport auf die Gehirnleistung bei Menschen überprüfen derzeit Professor Dr. Stefan Knecht und seine Kollegen von der Klinik für Neurologie der Universität Münster. Doch sie gehen noch weiter, sagte Knecht im Gespräch mit der PZ. Die Forscher prüfen, ob ein gesunder Lebensstil, der das Herz-Kreislauf-System schützt, auch die Gehirnleistung beeinflusst. »Wir untersuchen eine ganze Reihe von Kandidaten mit einer protektiven, beziehungsweise schädlichen Wirkung auf das Herz-Kreislauf-System«, sagte er. »Wir möchten ihre Bedeutung für die geistige Leistungsfähigkeit herausfinden, um zukünftige Präventionssangbote zu entwickeln.« Zu diesem Zweck testen die Wissenschaftler bei etwa 1000 gesunden, älteren Personen zu zwei Zeitpunkten die Lern- und Merkfähigkeit. Zwischendurch dienen regelmäßig Fragebögen zur Erfassung der Lebensweise. »Wir berücksichtigen Sport, Rauchen, Body-Mass-Index, Ernährung, Alkoholkonsum, Blutdruck und einige andere Faktoren«, sagte Knecht. Zwar möchte er der vollständigen Auswertung noch nicht vorgreifen. Doch sei eine gesunde Lebensweise deutlich mit einer verbesserten Gedächtnisleistung verknüpft, unabhängig von Alter, Geschlecht und Bildung. Der Volksmund könnte also recht behalten: In einem gesunden Körper wohnt auch ein gesunder Geist.