»In der Krise sind Fähigkeiten besser als Vorräte« |
Über Vorbereitungen auf die nächste Krise diskutierten (von links): Profesor Achim Wambach (ZEW), der Unionsgesundheitsexperte Tino Sorge, Roche-Vorstand Daniel Steiners und BMG-Abteilungsleiter Thomas Müller. / Foto: PZ/Anne Orth
Die Corona-Pandemie hat gezeigt, wie abhängig Deutschland bei der Herstellung von Arzneimitteln ist. Ist die hiesige Gesundheitswirtschaft auf die nächste Krise vorbereitet? Darüber diskutierten am Donnerstagnachmittag Thomas Müller, Leiter der Abteilung Arzneimittel, Medizinprodukte und Biotechnologie beim Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Tino Sorge (CDU), gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion, Daniel Steiners, Vorstand der Roche Pharma AG und Professor Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschafsforschung (ZEW).
Deutschland sei verhältnismäßig gut durch die Corona-Pandemie gekommen, habe sich aber bei der Herstellung von Wirkstoffen insbesondere von China und Indien viel zu abhängig gemacht, bemängelte Roche-Vorstand Steiners. Allein eine Fabrik aufzustellen, nütze nichts. Die Industrie benötige auch die nötigen Rohstoffe, zudem brauche der Aufbau neuer Produktionsstätten Zeit. »Wir müssen neue Investitionen ins Land holen«, forderte Steiners.
Um Unternehmen dazu zu bringen, sich hierzulande anzusiedeln, seien jedoch Anreize notwendig – zum Beispiel ein »freundliches Umfeld«. »Die Industrie braucht stabile, verlässliche Rahmenbedingungen«, betonte der Roche-Vorstand. Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz sei nicht vertrauensfördernd gewesen. Steiners kritisierte insbesondere den erhöhten Herstellerrabatt und forderte, das Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) »gemeinsam weiterzuentwickeln«.
»Das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz war für die Pharmabranche ein Schlag in die Magengrube«, pflichtete CDU-Gesundheitsexperte Tino Sorge Steiners bei. Grundsätzlich habe sich das AMNOG aber bewährt. Entscheidend sei, die Rahmenbedingungen so anzupassen, dass es für Unternehmen wieder attraktiver werde, in Deutschland zu produzieren. Das sei notwendig, damit Deutschland wettbewerbsfähig bleibe. Sorge schlug vor, die neuen AMNOG-Regelungen mit dem Medizinforschungsgesetz wieder abzuschaffen. Zudem müssten Anreize anders gesetzt werden. Dabei brachte der Bundestagsabgeordnete »längere Patentlaufzeiten in Europa« ins Spiel. Gesprächsformate hält Sorge ebenfalls für wichtig.
»Aktuell sind wir sehr viel besser auf eine Krise vorbereitet, weil wir gerade eine durchgemacht haben«, sagte BMG-Abteilungsleiter Müller. Während der Pandemie hätten in erster Linie Fähigkeiten geholfen. Die Firmen hätten sich an die Krise angepasst. »Fähigkeiten sind besser als Vorräte«, betonte Müller.
Der Arzneimittelexperte hält es ebenfalls für notwendig, das AMNOG weiterzuentwickeln. In diesen Prozess wolle er das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit einbeziehen. Er kündigte an, dazu nach der Sommerpause einen Runden Tisch mit Fachexperten einzurichten. Dieser werde bereits vorbereitet. »Wir machen derzeit so viel, das muss auch reinpassen«, warb Müller um Verständnis.
Überall Produktionsanlagen hinzustellen, sei nicht die Lösung für Lieferengpässe, betonte Müller. »Wir müssen Technologien beherrschen, nicht Produktion für alles vorhalten.« Der Abteilungsleiter verwies darauf, dass mit dem Lieferengpass-Gesetz (ALBVVG) die Vergabe von Rabattverträgen bei Antibiotika und Onkologika daran geknüpft ist, dass mindestens 50 Prozent der Wirkstoffe in Europa produziert werden. Um Innovationen in Deutschland zu fördern, habe die Bundesregierung das Medizinforschungsgesetz (MFG) auf den Weg gebracht. »Dabei haben wir viele Anregungen aufgenommen«, sagte Müller.
Der Bundestag werde das Gesetz bald verabschieden, kündigte er an. Derzeit berieten alle Fraktionen über das Vorhaben. Am 12. Juni hatte der Gesundheitsausschuss des Bundestags in einer öffentlichen Sitzung über die Pläne beraten.
In Deutschland gebe es ein gut zugängliches Gesundheitssystem, das aber auch finanziert werden müsse. Die Ausgaben für Arzneimittel würden pro Jahr um 9 bis 10 Prozent wachsen. »Wir suchen intelligente Lösungen, das System muss aber ausbalanciert werden«, gab Müller zu bedenken. Die Kosten dürften nicht aus dem Ruder laufen.
Der BMG-Abteilungsleiter informierte auch über das kürzlich gestartete Diskussionsforum »Critical Medicine Alliance«. Ziel sei, für 50 wichtige Wirkstoffe Produktionsstätten in Deutschland zu schaffen. Die Bundesregierung setze sich dafür ein, dass »aus der Alliance ein Act« werde, also ein Gesetz. Dann bestehe die Möglichkeit, dass die Kassen mithilfe des Vergaberechts forcieren könnten, dass kritische Wirkstoffe in Europa produziert werden.
Professor Achim Wambach, Präsident des Zentrums für Europäische Wirtschafsforschung (ZEW), monierte, dass Deutschland bei der Prävention im Vergleich zu anderen europäischen Ländern hinterherhinke. Verlässlichkeit sei wichtig, um Unternehmen Anreize zu geben, langfristig zu investieren. »Wir haben zu viel kurzfristiges Denken in der Politik. Auch die Kassen haben kein finanzielles Interesse, langfristig zu denken«, kritisierte Wambach.
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