Hochsensibel – wie Betroffene im Alltag ihre Stärke finden |
Hochsensible Menschen nehmen Reize teils deutlich intensiver wahr als andere, was Vor- und Nachteile mit sich bringt. / © Adobe Stock/Paula
Wer sehr sensibel ist, stößt oft auf Vorurteile, denn Sensibilität gilt oftmals noch als Schwäche. Begriffe wie »Sensibelchen«, »Mimose« oder »Heulsuse« sind nicht nur verletzend, sondern spiegeln auch nicht das wider, was Hochsensibilität bedeutet.
Hochsensibilität kann viel mehr sein: Sie kann im Alltag zwar belastend sein, eröffnet Betroffenen aber zugleich besondere Stärken – etwa ein feines Gespür für andere, ausgeprägte Intuition und große Kreativität, so die Psychologin, Psychotherapeutin und Life-Coach Miriam Junge.
Wichtig ist: »Es handelt sich dabei nicht um eine Diagnose oder Störung, sondern um ein Persönlichkeitsmerkmal«, so Junge. Menschen mit dieser Eigenschaft nehmen Reize, Stimmungen und Details schlicht intensiver wahr als andere. Doch warum ist das so?
Sensibilität ist eine Eigenschaft, die jeder Mensch besitzt – sie beschreibt die Fähigkeit, die Umgebung wahrzunehmen und kognitiv zu verarbeiten, erklärt der Psychologe und Professor für Entwicklungspsychologie an der University of Surrey Michael Pluess. »Das ist entscheidend, weil wir unsere Umgebung wahrnehmen müssen, damit wir uns anpassen können.« Allerdings reagieren nicht alle gleich stark: Rund 20 bis 30 Prozent der Menschen nehmen Reize intensiver wahr als andere. Bei ihnen spricht man von Hochsensibilität.
Laut Junge und Pluess kann Hochsensibilität sowohl genetisch, also angeboren, als auch durch Erfahrungen geprägt sein. Pluess verweist auf eine große Zwillingsstudie seines Teams: Etwa die Hälfte der Unterschiede in der Sensitivität ließen sich durch genetische Merkmale erklären, die andere Hälfte durch Umwelteinflüsse.
Hochsensibilität entsteht also aus einem Zusammenspiel von biologischer Veranlagung und Lebenserfahrungen.
Hochsensible Menschen nehmen Details intensiver wahr und haben insgesamt eine erhöhte emotionale Reaktivität – im Positiven wie im Negativen, sagt Pluess. Sie zeigen typische Merkmale wie schnelle Reizüberflutung, starke emotionale Reaktionen auf Eindrücke, ausgeprägte Empathie und ein hohes Maß an Reflexion. Junge: »Hochsensible Menschen bemerken feine Nuancen in ihrem Umfeld, etwa Stimmungen oder Störgeräusche, die andere kaum wahrnehmen.«
Diese intensive Wahrnehmung kann im Alltag anstrengend sein. Hochsensible fühlen sich laut Junge schneller erschöpft und brauchen mehr Rückzug. Dauerhafter Lärm, Konflikte oder ein hohes Arbeitspensum sind für sie besonders belastend. Viele empfinden sich zudem selbst als »zu empfindlich« und zweifeln an sich – was »Stress, Schlafprobleme oder emotionale Erschöpfung nach sich ziehen kann«.
Laut Pluess gibt es außerdem Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Sensibilität und psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen. Das bedeutet aber nicht, dass jeder hochsensible Mensch betroffen ist. Vielmehr haben Menschen mit hoher Sensitivität ein erhöhtes Risiko, solche Probleme zu entwickeln – vor allem dann, wenn sie in belastenden oder herausfordernden Umgebungen leben, so Pluess.