Frauen leiden häufiger und stärker an Migräne |
Laura Rudolph |
26.10.2022 09:00 Uhr |
Schwankende und niedrige Estrogenspiegel können bei Frauen Migräne begünstigen. / Foto: Getty Images/Anastasia Gorlanova/EyeEm
Migräne ist in Deutschland weit verbreitet. Mit 14,8 Prozent leiden Frauen mehr als doppelt so häufig an der Kopfschmerzerkrankung wie Männer mit 6,0 Prozent. Hinzu kommen 13,7 Prozent der Frauen und 12,0 Prozent der Männer, die zumindest einen Großteil der Diagnosekriterien erfüllen und damit mit hoher Wahrscheinlichkeit an Migräne leiden. Das geht aus einer Erhebung des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2020 hervor.
Nicht nur bei der Inzidenz, sondern auch beim Leidensdruck haben die Frauen einen Vorsprung, wie die Psychologin Anna-Lena Guth vom Kopfschmerzzentrum in Frankfurt am Main bei einem Symposium im Rahmen des Deutschen Schmerzkongresses berichtete. Frauen unterliegen etwa in stärkerem Maße als Männer den psychosozialen Folgen, die die Schwere der Erkrankung beeinflussen und dazu beitragen können, dass die Beschwerden chronisch werden.
Migränepatientinnen leiden laut einer aktuellen Studie aus der Schweiz häufiger als Migränepatienten unter Beziehungsproblemen, Unverständnis des familiären Umfelds sowie vermehrter Angst in der anfallsfreien Zeit vor erneuten Attacken (»Brain Sciences« 2021, DOI: 10.3390/brainsci11101323). »Interessanterweise sind diese geschlechterspezifischen Unterschiede bei Migräne zu beobachten, nicht jedoch bei anderen Kopfschmerzarten wie Spannungskopfschmerzen«, ergänzte Guth. Je höher die Kopfschmerzfrequenz, desto größer sei auch die Belastung – zumindest bei Frauen. Für männliche Migränepatienten konnte eine solche Korrelation nicht beobachtet werden.
Frauen scheinen auch häufiger und sensibler als Männer auf auslösende Reize zu reagieren. Das geht aus einer Befragung im Rahmen einer niederländischen Studie hervor (»Cephalalgia« 2021, DOI: 10.1177/0333102420974362). Als am stärksten dominierenden Triggerfaktor gaben 77 Prozent der befragten Frauen – neben der Menstruation – Stress an. Bei den befragten Männern waren es 69 Prozent.
Weiterhin häufig genannt wurden helles Licht (Frauen: 69 Prozent, Männer: 63 Prozent), Schlafmangel (Frauen: 68 Prozent, Männer: 60 Prozent) und ausgelassene Mahlzeiten (Frauen: 48 Prozent, Männer: 42 Prozent). Dabei könne die Angst vor Triggerfaktoren in einen Teufelskreis der Triggervermeidung führen, führte Guth weiter aus. Dies erhöhe die Empfindlichkeit für entsprechende Reize, was in der Folge auch etwa zu Medikamentenübergebrauch führen könne.
Doch warum scheinen Frauen anfälliger für Migräne? Dieser Trend zeigt sich vorwiegend im reproduktiven Alter, wie die Psychologin erklärte: »Interessant ist, dass die geschlechterspezifischen Unterschiede in der Migräneprävalenz postmenopausal nicht mehr so präsent sind.« Ein Einfluss des Sexualhormons Estrogen liegt also nahe, den Dr. Mira Pauline Fitzek von der Berliner Charité in dem Symposium weiter ausführte.
Die kumulative Lebenszeitprävalenz für Migräne liege bei Frauen bei 32 bis 43 Prozent, bei Männern bei 18 bis 22 Prozent, erklärte die Medizinerin. Insbesondere im reproduktiven Alter seien große Prävalenzunterschiede sichtbar, während sich die Prävalenzkurven der weiblichen und männlichen Betroffenen davor und danach wieder aneinander anglichen. Grund hierfür seien schwankende oder sehr niedrige Estrogenspiegel bei Frauen, wie sie während der Menarche, Menstruation und Menopause vermehrt vorkommen. In der Schwangerschaft und in der Postmenopause nehmen die Migräneattacken dagegen ab.
Das Phänomen wird als Estrogen-Entzugshypothese bezeichnet. Wie Estrogen und Migräne im Detail zusammenhängen, sei jedoch sehr komplex und weitestgehend noch unverstanden, betonte Fitzek.
Die aktuellsten Erkenntnisse brach die Medizinerin auf ihre Kernpunkte herunter: Estrogen moduliert Serotonin- und Dopamin-Neurotransmittersysteme. Fällt die Konzentration des weiblichen Sexualhormons ab, aktiviert dies den Signalweg, der dem Calcitonin Gene-Related Peptide (CGRP) nachgelagert und maßgeblich an der Entstehung von Migräneattacken beteiligt ist.
Die Kopfschmerzerkrankung ist trotzdem keine Frauensache. Die Stigmatisierung durch Nicht-Migräne-Betroffene kann Migränepatienten jeden Geschlechts gleichermaßen treffen. Das zeigt etwas eine Übersichtsarbeit aus den USA (»Current Pain and Headache Reports« 2021, DOI: 10.1007/s11916-021-00982-z), in der Aussagen von Nicht-Migräne-Betroffenen über Betroffene ausgewertet wurden – mit ernüchternden Ergebnissen.
Das Vorurteil, dass Migräne oft »bloß eingebildet« sei, hält sich offenbar hartnäckig. Betroffenen wird unterstellt, ihre Beschwerden vorzuschieben, um nicht arbeiten zu müssen. / Foto: Getty Images/John Lund
Demnach sind Migränepatienten häufig mit Vorurteilen über ihre Erkrankung und ihren Umgang damit konfrontiert. Knapp ein Drittel (31 Prozent) der 9999 befragten Personen ohne Migräne gab an, dass Migränepatientinnen und -patienten ihrer Meinung nach die Krankheit als Ausrede nutzten, um nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen zu müssen. 45 Prozent waren zudem der Meinung, Migräne sei einfach zu behandeln, und 36 Prozent glaubten, dass die Erkrankung auf ungesunder Lebensführung basiere.
In Anbetracht der Verkettung der körperlichen Symptome mit den psychosozialen Folgen ist es wenig verwunderlich, dass Migränepatientinnen und -patienten häufig unter psychischen Komorbiditäten wie Depressionen (Odds ratio 2,2 bis 4,0), generalisierten Angststörungen (OR 4,1 bis 5,5) oder Panikstörungen (OR 3,0 bis 10,4) leiden. »Eine Panikstörung trifft insbesondere Migränebetroffene mit Aura, was die große Breite der Odds Ratio erklärt«, erläuterte Guth. Die Symptome einer Aura wie Sprachlähmungen oder Sehstörungen könnten in Betroffenen etwa die Angst vor einem Herzinfarkt schüren, da dieser ähnliche Beschwerden verursachen könne.
Um psychischen Erkrankungen vorzubeugen, den Leidensdruck für die Betroffenen zu mindern und die Lebensqualität zu erhöhen, ist es wichtig, eine Migräne adäquat zu behandeln. Neben einer medikamentösen Therapie, beispielsweise mit Triptanen oder Antikörpern, können auch Gesundheits-Apps Betroffene unterstützen.