| Theo Dingermann |
| 03.04.2023 09:00 Uhr |
eCIS (»extrazelluläre kontraktile Injektionssysteme«) sind programmierbare Proteintransport- und -abgabesysteme. Sie können mit therapeutischen Proteinen beladen werden, die an Zellen unterschiedlicher Organismen dirigiert werden, um sie dort gezielt abzugeben. Unter dem Elektronenmikroskop sehen sie tatsächlich wie kleine Nadeln oder Nägel aus. / Foto: Broad Institute/Joseph Kreitz
Es ist vielleicht nicht überraschend, dass ausgerechnet Professor Dr. Feng Zhang, der entscheidend an der Entwicklung des CRISPR-Cas9-Systems beteiligt war, jetzt über eine neue bemerkenswerte Entwicklung in »Nature« berichtet. Ähnlich wie im Fall des universellen Genom-Editiersystems CRISPR-Cas9 wurde Zhang in der Mikrobiologie fündig, um eine besondere Eigenschaft bakterieller Proteintransporter für den therapeutischen Einsatz beim Menschen zu entdecken und anzupassen.
Sein Team am Broad Institut des Massachusetts Institute of Technology (MIT) und der Harvard University in Cambridge um Erstautor Joseph Kreitz konzentrierte sich auf die komplizierten Abgabesysteme, die endosymbiotische Bakterien entwickelt haben, um mit den Wirtsorganismen zu interagieren, wo sie sich dann vermehren können. Konkret wählten die Forschenden »extrazelluläre kontraktile Injektionssysteme« (eCIS), die wie biologische Spritzen funktionieren, um Proteine in Zellen zu injizieren.
eCIS sind makromolekulare Komplexe. Sie enthalten eine starre Röhrenstruktur in einer kontraktilen Hülle, die an einer Grundplatte verankert ist. Es wird angenommen, dass diese Komplexe in ihrem Lumen eine Nutzlast transportieren, die, nach Erkennung einer Zielzelle, durch die Hüllenkontraktion in eine Zelle injiziert wird.
Allerdings sind eCIS so groß, dass es unmöglich ist, dass die Bakterien, die sie produzieren, sie durch ihre eigene Zellwand nach außen transportieren können. Daher müssen die produzierenden Zellen lysieren (und absterben), um eCIS freizusetzen. Mit anderen Worten: Die Erzeugerzellen »opfern« sich für die Population.
Als Vorlage für die neue Nanomaschine nutzten die Forschenden aus Cambridge ein eCIS aus dem Bakterium Photorhabdus asymbiotica, das als Endosymbiont in entomopathogenen (Insekten befallenden) Nematoden vorkommt. Die Information für den eCIS-Komplex ist bei diesen Bakterien in der sogenannten Photorhabdus-Virulenzkassette (PVC) gespeichert. Das ist ein etwa 20 Kilobasen großes Operon, das 16 Kerngene (pvc1 –16) enthält, die für den Aufbau eines funktionsfähigen Injektionssystems notwendig sind.
Unmittelbar stromabwärts von pvc1 – 16 befinden sich die Nutzlastproteine Pdp1 (eine dNTP-Pyrophosphatase) und Pnf (eine Deamidase). Diese werden über die Kontraktion der PVC-Hülle in die Zielzellen »eingespritzt«.
Den Forschenden gelang es zu zeigen, dass sich an den N-Termini der endogenen PVC-Nutzlastproteine Bereiche befinden, die spezifisch Zielzellen erkennen können. Dies legt nahe, dass man an dieser Stelle manipulativ eingreifen kann, um die Nanospritzen auf andere Zellen zu richten.
Zunächst ersetzten die Forschenden die natürlichen Nutzlastproteine durch Indikatorelemente, darunter das grün fluoreszierende Protein (GFP), die Rekombinase Cre und eine Zinkfingernuklease. Diese Reporterproteine vermitteln leicht testbare Funktionen und zeigen so einen erfolgreichen Proteineintritt in eine Zielzelle an.
Tatsächlich ließen sich alle drei artifiziellen Nutzlastproteine gemeinsam mit den PVC aufreinigen. Das bestätigt, dass der Ansatz, das N-terminale Ende der PVC-Partikel zu modifizieren, machbar ist, um die PVC-Partikel mit nahezu beliebigen Proteinen zu beladen.
Schließlich konnten die Forschenden zeigen, dass die PVC-vermittelte Proteinabgabe sowohl mit endogenen als auch mit gentechnisch veränderten Nutzlasten in kultivierten Insektenzellen möglich ist. Dabei stellte sich heraus, dass für eine robuste Übertragung der toxischen Proteine mehrere PVC-Gene essenziell sind. Zu diesen zählen das als Targeting-Element des PVC vermutete pvc13-Genprodukt, das die so genannte Schwanzfaser kodiert, und das pvc15-Genprodukt, von dem bereits zuvor vermutet wurde, dass es für die Beladung des PVC-Komplexes erforderlich ist.
Eine weitere bemerkenswerte Leistung der Forschenden mündet in der Aufklärung des bis dato unbekannten Mechanismus, durch den PVC an die Zielzellen binden. Hilfreich war hier die Kenntnis des analogen Mechanismus, mit dem kontraktile Schwanzphagen, beispielsweise der Phage T4, an eine Bakterienzelle bindet. Dies gelingt ihm mit Hilfe von sechs langen Schwanzfasern, die reversible Wechselwirkungen mit Lipopolysaccharid-Molekülen oder mit Proteinen der äußeren Membran auf der Oberfläche von Wirtszellen eingehen.
Auch die PVC-Komplexe enthalten Schwanzfasern, so dass man spekulierte, dass sich die Zielspezifität der PVC-Komplexe auf vorhersagbare Weise verändern lassen könnte. Dies wird dadurch bekräftigt, dass sich PVC-Schwanzfasern von Phagenschwanzfasern dadurch unterscheiden, dass sie häufig auch Regionen enthalten, die auf rezeptorbindende Proteine von eukaryotischen Viren abzielen.
Ihrer Hypothese folgend testeten die Forschenden, ob Modifikationen des PVC-Schwanzfaserproteins (Pvc13) Veränderungen des Tropismus hervorrufen und das Targeting menschlicher Zellen ermöglichen könnten.
Sie verwendeten für ihre Modifikationen die Faltungsvorhersage-Software Alphafold. Dies ist ein mächtiges Werkzeug auf Basis künstlicher Intelligenz, mit der nahezu alle dreidimensionalen Strukturen der Proteine basierend auf ihrer Gensequenz vorhergesagt werden können.
Mit Hilfe dieses Tools gelang es den Forschenden, die bakteriellen PVC-Proteine so zu modifizieren, dass sie erstmals menschliche Zellen und Mäusezellen als Zielzellen erkannten – und das laut Aussagen der Autoren mit hoher Effizienz.
Für diese Experimente verwendeten die Forschenden menschliche A549-Lungenadenokarzinomzellen als Modellzelllinie, da bekannt ist, dass diese Zelllinie den epidermalen Wachstumsfaktorrezeptor (EGFR) überexprimiert und gegenüber einer Adenovirus 5-(Ad5)-Infektion empfindlich ist. Die Forschenden konnten zeigen, dass entsprechend modifizierte PVC die A549-Zellen effizient abtöteten, wenn sie mit den nativen Toxinen Pdp1 und Pnf beladen waren. Auch die artifiziellen Nutzlastproteine waren in der Zelllinie aktiv.
Um zu testen, ob PVC letztlich beim Menschen verwendet werden könnten, setzten die Forschenden ihr Protein-Abgabesystem schließlich auch bei lebenden Mäusen ein. Dazu wählten sie zwei neue Bindungsdomänen: eine modifizierte Domäne des Adenovirus 5 (Ad5-knob(RGD/PK7)) und ein Nanobody, also ein modifizierter monoklonaler Antikörper, der gegen das Maus-spezifische Oberflächenprotein CD45 gerichtet war. Damit gelang es den Forschenden, die bakteriellen PVC-Proteine so zu modifizieren, dass sie erstmals Mäusezellen in vivo als Ziel erkannten.
Zusammenfassend wird in dieser Publikation gezeigt, dass ein eCIS ein programmierbares Proteintransport- und -abgabesystem darstellt, das flexibel modifiziert werden kann, um mit therapeutischen Proteinen beladen zu werden, die an Zellen unterschiedlicher Organismen dirigiert werden, um sie dort gezielt abzugeben.
Der Wissenschaftsinformationsdienst »Science Media Center« hat verschieden Experten nach Ihrer Einschätzung der Arbeiten aus dem Zhang-Labor befragt. Das Urteil ist durchweg positiv:
So antwortet beispielsweise Professor Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie und Tropenmedizin und Leiter der Spezialeinheit für hochansteckende lebensbedrohliche Infektionen, München Klinik Schwabing: »Zhang und Kollegen präsentieren beeindruckende in vitro Daten für ein neuartiges bakterielles Trägersystem basierend auf einer Photorhabdus Virulenz Kassette (PVC), welches viele Perspektiven in der individualisierten Medizin, nicht zuletzt in der Tumortherapie, eröffnen könnte. Auch wenn noch konkrete Daten in spezifischen Tumortiermodellen fehlen, sind die ersten Ergebnisse, die aktuell in ‚Nature‘ publiziert wurden, beeindruckend genug.«
Dr. Fabian Eisenstein, Post-Doktorand an der Graduate School of Medicine der University of Tokyo, sagt: »Bakterielle Kontraktile Injektionssysteme (CIS) sind wunderbare Nanomaschinen, die die technischen Fähigkeiten der Natur offenbaren. Während die Vielfalt ihrer Funktionen in verschiedenen Organismen noch nicht vollständig erforscht wurde, können die meisten untersuchten Beispiele eine Proteinfracht in einen spezifischen Zielzelltyp injizieren. Daher wurde seit einigen Jahren vorgeschlagen, diese Nano-Spritzen als Grundbaustein für die gezielte Lieferung von Medikamenten auf Molekülebene zu verwenden. Die Arbeit von Kreitz et al. ist ein großer Schritt in Richtung dieses Ziels.«