Titel |
23.09.2002 00:00 Uhr |
Fallbeispiel Der 22-jährige Patient stellte sich mit vielfältigen Beschwerden in der Praxis vor. Neben Kopfschmerzen, Muskel- und Gesichtsverspannungen, Schwindelgefühlen und vegetativen Sensationen litt er an kollapsähnlichen Erscheinungen, die er als „Herz-Rhythmusstörungen“ interpretierte. Wiederholte Untersuchungen hatten keinen organ-pathologischen Befund, insbesondere nicht vom Herzen ergeben. Zeitweilig wurden Diagnosen wie Herzneurose, Paniksyndrom oder Hyperventilationstetanie gestellt.
Der Patient hatte bereits zahlreiche Allgemeinärzte, Internisten und Klinikambulanzen sowie Fachärzte nahezu sämtlicher Disziplinen und Nervenärzte aufgesucht, denen gegenüber er aber skeptisch blieb. Kurze stationäre Aufenthalte und zwei Psychotherapien hatten allenfalls vorübergehende Besserungen gebracht. In der Therapie war fast das gesamte Spektrum von Antidepressiva, Anxiolytika, Analgetika bis hin zu niederpotenten Neuroleptika, Carbamazepin und Phytotherapeutika zum Einsatz gekommen.
Jede Ausbildung abgebrochen
Der junge Mann war in geordneten familiären Verhältnissen als einziger Sohn seiner Eltern aufgewachsen. Die Beziehung zur Mutter schilderte er als recht eng und vertrauensvoll, diejenige zum Vater als ambivalent. Die Symptomatik hatte im 15. Lebensjahr nach Schulwechsel und Umzug begonnen; er habe sich in der neuen Klasse nicht wohl und anerkannt gefühlt. Während er zuvor noch von der Realschule auf ein Gymnasium wechseln wollte, schaffte er nach Beginn der Beschwerden gerade den Realschulabschluss.
Versuche, eine Lehre oder Ausbildung zu machen, musste er nach wenigen Wochen abbrechen. Ohne jede formale Berufsausbildung versuchte er verschiedene Jobs als Bote, in der Produktion oder auch einer Fleischfabrik, hielt es aber nie länger als zwei Wochen, manchmal nur einen Tag aus. Unter Belastung traten die Beschwerden rasch wieder auf oder nahmen zu. Die Eltern seien streckenweise verzweifelt gewesen, berichtete er; sie hätten sich aber in den letzten Jahren teils toleranter verhalten, teils mit der Sache abgefunden.
Seit knapp zwei Jahren bewohnte der junge Mann eine kleine Wohnung, um sich zumindest äußerlich „von den Eltern zu lösen“. Er ging aber mindestens einmal täglich zu ihnen und ließ sich in Alltagsdingen gerne von der Mutter beraten. Immerhin hätte er zumindest für Tage bis Wochen schon einige Male eine Beziehung zu einer Freundin aufnehmen können. Regelmäßige Sozialkontakte zu Vereinen oder Freunden hatte er nicht.
Existenzsorgen
Seine mittelfristige Perspektive betrachtete der Patient als zweifelhaft. Zu den körperlichen Symptomen kamen daher Existenzsorgen, Befürchtungen vor Ablehnung durch andere Menschen sowie Sorgen und Gedankenkreisen hinzu, was seine Stimmung oft verdüsterte. Immer wieder suchte er Kontakt zu jungen Leuten seines Alters, jedoch führten seine Sorgen, Ängste oder Beschwerden oftmals zu Irritationen seiner Umgebung und dem Abbruch sozialer Kontakt, was die Gesamtsituation zusätzlich belastete.
Der Patient trank nur gelegentlich, besonders beim Ausgehen oder vor Diskobesuchen, eine geringe Menge Alkohol, worunter er eine leichte Besserung spürte. Einen stark alkoholisierten Zustand fürchtete er. Von Medikamenten versprach er sich fast nichts mehr.
Fluktuierende Ängste
Im Rahmen unserer ambulanten Behandlung, die sich etwa über ein Jahr erstreckte, wurden zunächst Behandlungsgeschichte und der aktuelle Status erhoben. Kurzzeitig erhielt er ein trizyklisches Antidepressivum, das jedoch keinen durchgängig stabilisierenden Effekt zeigte.
Charakteristisch waren die polymorphen Beschwerden, die häufig von Monat zu Monat, mitunter sogar von Sitzung zu Sitzung einen anderen Fokus der Themensetzung erforderten. Versuche des Therapeuten, beharrlicher an einem Schwerpunkt, insbesondere den muskulären Verspannungen, den Kollapsbefürchtungen und den vielfältigen psychovegetativen Sensationen, zu „arbeiten“, unterbrach der Patient durch Angaben vorherrschender fluktuierender Ängste.
Zu den Terminen erschien er regelmäßig und motiviert und erledigte oftmals die therapeutischen Aufgaben. Leider war eine anhaltende Besserung nur geringgradig, zum Beispiel bei den Verspannungsgefühlen oder der Aufgabe des sozialen Vermeidungsverhaltens, zu erreichen. Anlässlich eines Erholungsurlaubs des Therapeuten fühlte sich der Patient nicht in der Lage, die Zeit „allein zu überbrücken“ und nahm andernorts eine Behandlung auf.
Nur begrenzte Therapieeffekte
Die Kasuistik zeigt die körperbezogene Symptomatik, die vielfältigen Sorgen und das Vermeidungsverhalten. Dadurch waren schulische und berufliche Entwicklung massiv beeinträchtigt. Ausbildungs- und Verselbständigungsversuche gelangen nur teilweise. Dies bedingte eine „soziale Regression“, ohne eine eigenständige Einnahmequelle erschließen zu können.
Therapeutische Effekte waren allenfalls in Teilgebieten und nur vorübergehend zu erzielen. Günstig war die Tatsache, dass weder sekundärer Alkohol- noch Medikamentenabusus noch Selbstmordabsichten bestanden. Dennoch blieb die Gesamtbehandlungsperspektive unbefriedigend und zeigte trotz vielfältiger Bemühungen nur sehr begrenzte Effekte.
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