Experten wachsam, sehen aber keine massive Gefahr |
Mit Stand von Samstag ging die WHO von rund 90 bestätigten Infektionen und 30 Verdachtsfällen aus. / Foto: Adobe Stock/LIGHTFIELD STUDIOS
«Aufgrund der vielfältigen Kontakte der derzeit Infizierten ist in Europa und auch in Deutschland mit weiteren Erkrankungen zu rechnen», heißt es in einem Bericht für den Gesundheitsausschuss des Bundestages. Mit Stand von Sonntagnachmittag gebe es inzwischen vier bestätigte Infektions- und Erkrankungsfälle in Deutschland: einen in München und drei in Berlin. Proben weiterer Personen seien in Abklärung. Kontaktpersonen würden ermittelt.
«Es handelt sich inzwischen um ein Geschehen mit internationaler Verbreitung», heißt es in dem Ministeriumsbericht weiter, der der Deutschen Presse-Agentur vorliegt. In zahlreichen Ländern seien mehr als 130 bestätigte Fälle und Verdachtsfälle nachgewiesen, «Tendenz täglich steigend». Bisher sei bei den in Europa festgestellten Infektionen die westafrikanische Affenpocken-Variante nachgewiesen worden, weitere Genomanalysen liefen jedoch noch.
Um mögliche Erkrankungen zu registrieren und die Weiterverbreitung zu verhindern, sollten diagnostizierte Infektionsfälle systematisch erfasst und isoliert werden. Diese sollten von Ärztinnen, Ärzten und Laboren gemäß dem Infektionsschutzgesetz gemeldet werden. «Eine Pockenimpfung schützt vermutlich auch vor Affenpocken», erläutert das Ministerium weiter. In der Bundesrepublik sei sie bis 1975 für Einjährige Pflicht gewesen, in der DDR sei eine Impfpflicht 1982 aufgehoben worden.
Die Bundesregierung hat laut dem Bericht etwa 100 Millionen Dosen Pockenimpfstoff eingelagert. Davon seien zwei Millionen Dosen an die Weltgesundheitsorganisation (WHO) gespendet und für sie eingelagert worden. Inwieweit eine Pockenimpfung für Kontaktpersonen und Risikogruppen empfohlen werde, sei noch Gegenstand der fachlichen Abklärung.
Das Ministerium verweist auf die bereits veröffentlichte Risikoeinschätzung des Robert Koch-Instituts (RKI), wonach eine Gefährdung für die Gesundheit der breiten Bevölkerung in Deutschland nach derzeitigen Erkenntnissen als gering eingeschätzt wird.
Übertragen wird der Erreger vor allem über direkten Kontakt oder Kontakt zu kontaminierten Materialien. Das Virus verursacht nach Angaben von Gesundheitsbehörden meist nur milde Symptome wie Fieber, Kopf- und Muskelschmerzen und Hautausschlag.
Schwerwiegende Verläufe einer Affenpocken-Infektion sind nach Angaben von Medizinern bei gesunden Menschen selten, doch der Erreger ist in eine hohe Sicherheitsstufe eingruppiert. Experten erwarten eine weitere Ausbreitung – mit Risiken für Menschen mit einem stark geschwächten Immunsystem. Von einer großen Ansteckungswelle in der Bundesrepublik gehen aber weder die behandelnden Ärzte des ersten Affenpocken-Patienten in München noch das Robert-Koch-Institut aus.
«Ich bin überzeugt, dass es insgesamt noch weitere Fälle in Deutschland geben wird», sagte bereits vor Bekanntwerden der Berliner Fälle Professor Dr. Clemens Wendtner, Chefarzt der Infektiologie des Schwabinger Krankenhauses. Dort wird ein 26-Jähriger aus Brasilien mit der ersten je in Deutschland gemeldeten Affenpocken-Erkrankung behandelt.
Es gebe immunsupprimierte Patientengruppen, bei denen Vorsicht geboten sei, sagte Wendtner auf Anfrage. «Dazu gehören beispielsweise HIV-Patienten ohne ausreichende medikamentöse Krankheitskontrolle, aber zum Beispiel auch Tumorpatienten mit schwerer Immunsuppression etwa nach Stammzelltherapie.»
Seit 2013 ist in der EU der Impfstoff Imvanex zugelassen. «Dies ist ein Lebendimpfstoff, der aus einer abgeschwächten Form des Pocken-Impfstoffs hergestellt wird. Die Erreger sind so abgeschwächt, dass sie sich nicht vermehren können, sonst könnten immungeschwächte Patienten nicht geimpft werden», informierte der Infektiologe. «Wir haben nun eine Diskussion, wie man diese Risikogruppen besser schützen könnte und ob man eine sogenannte Riegelimpfung für sie einführen sollte.»
Riegelimpfungen sind nach Wendtners Erläuterung Impfungen, die für bestimmte Bevölkerungsgruppen – n diesem Fall Menschen mit geschwächter Immunabwehr – begrenzt eingeführt werden könnten, um die weitere Ausbreitung des Affenpockenvirus zu unterbinden. «Wir gehen davon aus, dass die ältere Generation, die vor 1980 noch gegen die klassischen Pocken geimpft wurde, einen sehr hohen Schutz auch gegen Affenpocken hat, diese Menschen sind sehr wenig bis gar nicht gefährdet.»
Mit dem Medikament Tecovirimat gibt es nach Wendtners Worten auch eine seit Januar 2022 in der EU zugelassene Therapiemöglichkeit. «Tecovirimat ist ein kleines Molekül, das die Bildung des schützenden Hüllproteins des Affenpocken-Erregers verhindert, so dass die Virusfreisetzung aus der Wirtszelle verhindert wird», erklärte Wendtner. «Das Mittel ist auf dem Weg nach Schwabing – nicht unbedingt für unseren Patienten, aber für nicht auszuschließende weitere Fälle.»
Der Münchner Patient leidet an der milderen westafrikanischen der zwei bekannten Virusvarianten. Der Mann war von Portugal über Spanien nach München gereist und hatte sich zuvor in Düsseldorf und Frankfurt am Main aufgehalten. «Dem Patienten geht es nach wie vor gut, er hat relativ wenig Symptome», sagte Wendtner.
Untergebracht ist der 26-Jährige in einem Einzelzimmer mit vorgeschalteter Schleuse. «Im Patientenzimmer herrscht Unterdruck, so dass keine Luft unkontrolliert nach außen entweichen kann. Die Abluft wird zusätzlich über eine virusdichte Filteranlage aufgereinigt», sagte der Mediziner. «Von diesen besonders ausgestatteten Infektionsstationen, die zwar zur Versorgung von Affenpocken-Patienten nicht zwingend erforderlich sind, aber dennoch höchste Sicherheitsstandards für andere Patienten und medizinisches Personal garantieren, haben wir in Deutschland leider zu wenige.»
Die Wissenschaft geht nach Worten Wendtners davon aus, dass mit Affenpocken infizierte Patienten drei bis vier Wochen ansteckend sind. «Unser Patient ist seit 13./14. Mai symptomatisch, so dass er noch zwei bis drei Wochen vor sich hätte. Das hängt aber natürlich immer vom individuellen Verlauf der Infektion ab.»
Es handle sich um eine klassische Schmierinfektion, «die durch direkten Kontakt mit Körperflüssigkeiten, aber auch das gemeinsame Nutzen von Bettwäsche oder das Teilen von Kleidung von Infizierten übertragen wird. Promiskuität und ungeschützter Geschlechtsverkehr sind Risikofaktoren.»
«Allgemein geht man davon aus, dass die westafrikanischen Affenpocken eine Sterblichkeit von insgesamt 1 Prozent haben, das betrifft vor allem Kinder unter 16 Jahren», sagte Wendtner. «Man muss aber bedenken, dass diese Daten aus Afrika nicht zwingend übertragbar auf das Gesundheitswesen in Europa oder den USA sind, bei uns wäre die Sterblichkeit eher niedriger anzusetzen. Das ist eine Erkrankung, die meines Erachtens nicht das Potenzial hat, die Bevölkerung massiv zu gefährden.»
Der Erreger der Affenpocken ist in die Risikogruppe drei eingestuft. «Das ist die zweithöchste Sicherheitsstufe», sagte Wendtner. «Die Aufarbeitung dieser Viren darf nur in Speziallaboren erfolgen, von denen es nicht viele gibt.»
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) fordert eine Reihe von Maßnahmen gegen die weitere Ausbreitung der Affenpocken. Es sei «dringend notwendig», das Bewusstsein für die Virenerkrankung zu erhöhen, hieß es Samstagnacht von der UN-Organisation in Genf. Außerdem müssten Fälle umfassend ausfindig gemacht und isoliert werden, sowie Ansteckungswege rückverfolgt werden.
Die Erkrankungen, die bisher in Europa, Nordamerika und Australien bekannt wurden, betrafen laut WHO hauptsächlich, aber nicht nur, Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex haben. Wegen der noch eingeschränkten Beobachtungslage sei es sehr wahrscheinlich, dass Fälle in weiteren Bevölkerungsgruppen und Ländern auftauchen. Mit Stand von Samstag ging die WHO von rund 90 bestätigten Infektionen und 30 Verdachtsfällen aus.
Reisebeschränkungen oder Absagen von Veranstaltungen in betroffenen Ländern sind aus Sicht der WHO derzeit nicht notwendig. Die Organisation wies zwar darauf hin, dass es bei Massenveranstaltungen zu Ansteckungen kommen kann, betonte aber auch, dass Vorsichtsmaßnahmen gegen Covid-19 auch gegen Affenpocken wirken.