EU bessert im Pharmapaket Voucher-Lösung nach |
Jennifer Evans |
27.04.2023 15:30 Uhr |
Die EU-Kommission hat in Brüssel ihre Vorschläge vorgelegt, wie sie die Arzneimittelversorgung in den Mitgliedstaaten verbessern will. / Foto: Adobe Stock/Aintschie
Nachdem im Februar bereits ein erster Entwurf des Reformpakets vorzeitig an die Öffentlichkeit gelangte, liegt nun der offizielle Vorschlag der EU-Kommission zur Revision des EU-Arzneimittelrechts auf dem Tisch. Dabei handelt sich um einen bunten Blumenstrauß verschiedener Aspekte. Kein Wunder: Es ist die erste Reform nach mehr als 20 Jahren. Allerdings hatten sich bereits im Vorfeld Differenzen abgezeichnet. Damit steht wohl noch auf wackeligen Beinen, ob das Gesetzgebungsverfahren bis zum Ende der laufenden Legislatur abgeschlossen sein wird. Doch zunächst müssen sich das EU-Parlament und der Rat mit den Inhalten des Legislativvorschlags befassen.
Generell will die EU-Kommission mit ihrem Pharmapaket gegen Arzneimittel-Engpässe, antimikrobielle Resistenzen (AMR) und eine ungleiche Versorgung mit Medikamenten vorgehen. Auch gilt es, die Entwicklung neuer Präparate zu fördern, den Wettbewerbsgeist der europäischen Pharmaindustrie zu befeuern und gleichzeitig höhere Umweltstandards zu etablieren.
Im Vergleich zum Vorab-Entwurf hat die EU-Kommission noch einmal nachgebessert. Nun sollen Unternehmen auf Antrag bis zu zwölf Jahre ihre Daten für innovative Arzneimittel schützen können. Acht Jahre Schutzfrist bekommt jeder. Wer sich bemüht, darf zusätzliche Monate addieren. Zwei weitere Jahre gibt es, wenn das Medikament in allen EU-Mitgliedstaaten auf den Markt kommt. Belohnt mit sechs Monaten wird, wer ein Präparat für ungedeckte medizinische Bedarfe entwickelt. Ebenfalls ein halbes Jahr on top lässt sich ergattern, wenn ein Hersteller vergleichende klinische Prüfungen durchführt.
Für Kinderarzneimittel und Arzneimittel gegen seltene Erkrankungen sind längere Schutz- und Exklusivitätsfristen vorgesehen. An dem Recht auf das geistige Eigentum ändert sich grundsätzlich aber nichts.
Damit Schwachstellen in den Lieferketten schneller bemerkt werden, sollen die Hersteller nach dem Willen der EU-Kommission künftig Engpässe früher melden und Präventionspläne zur Vermeidung von Engpässen sowohl bei zugelassenen sowie bei bereits in Verkehr gebrachten Präparaten zu führen. Zudem soll eine EU-weite Liste kritischer Arzneimittel Probleme schneller aufdecken. Und insgesamt ist vorgesehen, dass sowohl die europäische Arzneimittelagentur – EMA als auch die nationalen Behörden mehr überwachen und steuern können. Darüber hinaus spricht sich die Kommission die Erlaubnis zu, »rechtsverbindliche Maßnahmen« ergreifen zu dürfen, um die Versorgungssicherheit bei bestimmten kritischen Arzneimitteln zu erhöhen.
Aber auf die EMA wartet noch eine weitere neue Rolle: Es geht um einfachere und schnellere digitalisierte Bewertungs- und Zulassungsverfahren. Konkret soll das Zulassungsverfahren für ein neues Medikament nur noch 180 Tage statt derzeit durchschnittlich 400 Tage betragen. Für Generika sind abgespeckte Anforderungen vorgesehen, damit sie schneller und leichter auf den Markt kommen können. Zulassungsverlängerung sollen in den meisten Fällen gänzlich entfallen. Zu Qualitätsabstrichen in Sachen Sicherheit oder Wirksamkeit soll es dadurch aber nicht kommen.
Zudem sollen verschärfte Verschreibungs- und Verpackungsanforderungen dazu beitragen, dass weniger Antibiotika zum Einsatz kommen. Wer ein neues Antibiotikum entwickelt mit neuem Wirkmechanismus oder Antibiotikaklasse entwickelt hat, erhält dafür in Zukunft einen übertragbaren Exklusivgutschein. Den kann der Hersteller dann entweder dafür einsetzen, um die Marktexklusivität eines seiner anderen Arzneimittel zu verlängern oder ihn an die Konkurrenz verkaufen. Wegen der Kritik an dem lukrativen Nebengeschäft hat die EU-Kommission im aktuellen Entwurf die Anzahl der Voucher auf zehn Stück innerhalb der EU begrenzt. Außerdem darf jeder Gutschein nur einmal weitergegeben werden. Die Kassen dürfte das freuen. Sie fanden die Idee zu teuer. Auch einige Mitgliedstaaten befürchten dadurch höhere Arzneimittelpreise.
Aus Sicht des Verbands der forschenden Pharmaunternehmen (vfa) geht das Konzept aus Brüssel nicht auf. Stattdessen schaffe sich die EU-Kommission Hindernisse für die Entwicklung neuer Arzneimittel. Durch die geschwächten Rechte am geistigen Eigentum wird es nach Einschätzung des Verbands in Europa zu weniger Forschungsinvestitionen kommen, im Gegenzug aber China und die USA stärken.
Der Bundesverband der pharmazeutischen Industrie (BPI) sieht das ähnlich und bewertet »eine Reduzierung des Status-Quo« als ein schlechtes Signal, vor allem an die mehr als 90 Prozent der klein- und mittelständisch geprägten Unternehmen hierzulande. Zudem schreckten »überbordende Bevorratungs-, Melde- oder Transparenzpflichten« ab.
Auch der Bundesverband der Arzneimittelhersteller (BAH) sieht in dem Kommissionsvorschlag mehr Schatten als Licht. Neue Auflagen machten administrative Erleichterungen zunichte. Und strengere Verpflichtungen etwa bei der Meldung von Engpässen würden die Versorgungssicherheit nicht erhöhen. Dafür seien umfassende Lösungsansätze und eine Änderung der Vergütungsstrukturen notwendig. Besonders problematisch bewertet der BAH, dass eine Zulassung widerrufen oder abgelehnt werden darf, wenn das Arzneimittel in der Umweltverträglichkeit-Prüfung durchfällt. Zu den Lichtpunkten zählt laut BAH dagegen der Einstieg in die elektronische Packungsbeilage. Dem EU-Vorhaben zufolge sollen sich so Arzneimittel künftig leichter zwischen den EU-Märkten umverteilen lassen, um in Engpass-Situationen ein gegenseitiges Aushelfen zu ermöglichen.
Für Peter Liese, gesundheitspolitischer Sprecher der Christdemokraten im Europäischen Parlament (EVP), erscheint es zentral, dass der Kommissionsvorschlag zwischen wirklichen Innovationen und anderen neuen Medikamenten unterscheidet. »Wir brauchen therapeutische Durchbrüche, wie etwa die mRNA-Technologie, um Patienten, denen wir bisher nicht helfen können, zu helfen.« Er begrüßt zwar die neuen Anreize für die Industrie, bezweifelt aber, ob die geplanten Schritte bei Engpass-Prävention ausreichend sind.
Medikamenten-Lieferengpässe auf europäischer Ebene anzupacken, entfaltet nach Ansicht der Grünen-Abgeordneten und Berichterstatterin für Arzneimittel, Paula Piechotta, mehr Wirkung, als das Problem in der nationalen Gesetzgebung anzugehen. Für sie ist es entscheidend, dass der deutsche Gesetzentwurf zur Bekämpfung von Lieferengpässen, also das geplante Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG), mit den Reformen auf EU-Ebene »optimal verzahnt« wird.
Zum Hintergrund: Zur Umsetzung der EU-Pharmastrategie hat die EU-Kommission ein ganzes Paket an neuen Regelungen geschnürt. Aus vormals vier Gesetzen sollen nun zwei neue Regelwerke entstehen. Zum einen geht es um eine neue Richtlinie zum Gemeinschaftskodex für Humanarzneimittel und zum anderem um eine neue Verordnung, die unter anderem Verfahren bei der Genehmigung und Überwachung von Humanarzneimitteln regelt. Grundsätzlich hat die EU-Kommission zwar das Vorschlagsrecht in der Gesetzgebung, kann ihre Ideen aber nur umsetzen, wenn die Mitgliedsstaaten und das EU-Parlament zustimmen.