»Es geht um Daseinsvorsorge, nicht um Luxus« |
| Melanie Höhn |
| 19.06.2023 17:05 Uhr |
Das derzeitige Problem treffe vor allem Kinder und Jugendliche erneut besonders stark, wie Professor Gaby Flösser, Vorsitzende des Landesverbands NRW des Kinderschutzbundes, betonte. »Die Kinder sind in dieser Krise wieder aus dem Blick geraten«, so Flösser. »Der Medikamentenmangel lässt Kinder leiden, und darunter leiden auch die Familien, das ist ein sich wechselseitig verstärkendes Problem.«
Die Diskutanten waren sich schnell einig: Die eine große Lösung, die das Problem schnell beseitigt, könne es nicht geben. Eine Verlagerung der gesamten Medikamentenproduktion zurück nach Europa sei unrealistisch, bei der Problematik der Lieferketten müsse mehr auf Diversifizierung geachtet werden, Abrechnungs- und Preismodelle müssten modifiziert werden und weniger allein auf die Kostenreduktion fixiert sein. Es müsse an verschiedenen Stellschrauben gedreht werden – und das mit gemeinsamer Anstrengung.
Dirk Janssen, Vorstand des BKK-Landesverbands Nordwest, brachte ein Frühwarnsystem, das entstehende gesundheitliche Problemlagen und den damit verbundenen erhöhten Medikamentenbedarf vorher erkennt, ins Gespräch. »In ein solches System«, so Janssen, »müssen sowohl Verordnungsdaten als auch Daten zur Entwicklung von Krankheiten einfließen«. Derzeit lägen diese Daten viel zu spät vor, um sie nutzen zu können.
Auch die Option einer Medikamentenreserve, zumindest für die »kritischen« Wirkstoffe, wurde thematisiert. »Es geht dabei um Daseinsvorsorge, nicht um Luxus«, so Apotheker Thomas Preis, »und das ist Aufgabe des Staats.« Ob dieser nicht zur Bevorratung entsprechende Medikamentenmengen aufkaufen müsse, um drohende Lieferengpässe für 90 bis 120 Tage zu überbrücken, fragte Professor Grönemeyer die Experten. Hubertus Cranz sieht das allerdings nur als die zweitbeste Lösung an. »Denn wenn die Voraussetzungen stimmen, regelt das der Markt. Allerdings muss man Arzneimittel-Herstellern auch die Möglichkeiten geben, ihrer Arbeit auskömmlich nachzugehen.«
Abseits von politischen Regelungen und ökonomischen Zwängen beleuchtete Professor Grönemeyer die Möglichkeiten, die Menschen selbst für sich nutzten können: »Ich bin der festen Überzeugung: Prävention ist der Game Changer in der Medizin. Auch in diesem Fall«, sagte er und fand große Zustimmung in der Runde. Die Stärkung der Gesundheitskompetenz des Einzelnen ebenso wie die Stärkung der Eigenverantwortung sei eine wichtige Maßnahme. Gleiches gelte für einen verantwortungsvollen Einsatz von Antibiotika. Vor der Verordnung eines Antibiotikums sollte möglichst gründlich die Frage geklärt sein, ob tatsächlich ein Infekt durch Bakterien vorliege. Schließlich gelte bei der Behandlung immer die Devise: von leicht zu schwer. In der Folge sollte die Antibiotikabehandlung so kurz wie nötig beibehalten werden.
»Wir müssen die medizinische Aufklärungsarbeit für Familien stärken, da müssen wir uns noch mehr anstrengen«, forderte Professor Flösser vom Kinderschutzbund. Sie wünsche sich, dass »eine Generation heranwächst, die mit sich selbst kompetent umgehen kann, in der Gesundheit, im Denken, im Fühlen.« Zudem sieht sie einen Wandel im medizinischen System als notwendig an: »Neben einer kurativen Medizin wünsche ich mir ein System, das auf das Wohlbefinden von Kindern und Jugendlichen ausgelegt ist.«