Erste behördliche Zulassung weltweit |
Sven Siebenand |
17.11.2023 09:00 Uhr |
Im Jahr 2020 erhielten Emmanuelle Charpentier und Jennifer A. Doudna für die Entwicklung der Genschere CRISPR-Cas9 den Nobelpreis für Chemie. / Foto: Adobe Stock/wladimir1804
Ursache der Bluterkrankungen Sichelzellanämie und β-Thalassämie sind Fehler in den Genen für den Blutfarbstoff Hämoglobin. Bei der Sichelzellanämie nehmen die Erythrozyten die Form einer Sichel ein. Dies geschieht infolge einer Mutation im Gen für β-Globin. »Normales« Hämoglobin A wird durch abnormales Hämoglobin S ersetzt. Durch die Sichelform der Blutkörperchen kommt es zu starken Schmerzen, Anämien, Verstopfungen der Blutgefäße und Organschäden. Das genetisch bedingte Fehlen von β-Ketten verursacht eine Thalassämie und kann zu schwerer Blutarmut führen, sodass Betroffene häufig regelmäßige Bluttransfusionen sowie lebenslang Injektionen und Medikamente benötigen.
Dreh- und Angelpunkt der neuen, nun in Großbritannien zugelassenen Therapie ist das sogenannte fetale Hämoglobin. Dieses wird fast nur in der Fetalzeit produziert. Es weist eine höhere Sauerstoffaffinität auf als adultes Hämoglobin, wodurch der Sauerstofftransfer zum Fetus im Mutterleib gewährleistet ist. Nach der Geburt wird die Produktion eingestellt.
Die neue CRISPR-Therapie zielt darauf ab, ein bestimmtes Gen zu inaktivieren, das nach der Geburt die andauernde Produktion von fetalem Hämoglobin hemmt. So produzieren behandelte Menschen mit Sichelzellanämie auch noch nach der Geburt signifikante Mengen an fetalem Hämoglobin, was die Symptomatik der Erkrankung verbessern kann, indem das Sichelzellhämoglobin verdünnt wird und das Plus an fetalem Hämoglobin die Formveränderung der roten Blutkörperchen verhindert. Bei Patienten mit Thalassämie soll das Sauerstoff-affine fetale Hämoglobin fehlendes Hämoglobin ersetzen.
Zu Beginn der Therapie werden den Patienten Blutstammzellen entnommen. Im Labor werden diese mit der Genschere CRISPR/Cas9 behandelt. Dabei soll gezielt das Gen herausgeschnitten werden, das die andauernde Produktion von fetalem Hämoglobin unterbindet. Vor der Rückinfusion der veränderten Stammzellen wird eine Chemotherapie durchgeführt, um die verbleibenden Blutstammzellen abzutöten. Dann erst erhält der Patient die modifizierten Blutstammzellen per Infusion. Sie sollen fortan Erythrozyten mit einem hohen Anteil an fetalem Hämoglobin bilden.
»In den aktuellen Studien der Hersteller benötigte ein Großteil der Probanden mit β-Thalassämie am Ende des Studienzeitraums keine Bluttransfusionen mehr beziehungsweise hatten Sichelzellpatienten auch keine Schmerzkrisen mehr. Hier ist allerdings anzumerken, dass der Nachbeobachtungszeitraum vergleichsweise kurz ist«, so Professor Dr. Selim Corbacioglu, Leiter der Abteilung für Pädiatrische Hämatologie, Onkologie und Stammzelltransplantation am Universitätsklinikum Regensburg. Und: »Wir wissen einfach noch nicht, ob die Patienten womöglich nach einigen Jahren plötzlich doch wieder Transfusionen benötigten oder Schmerzkrisen bekommen, weil die Zellen verschwunden sind.«
Auch zum Thema Sicherheit äußert sich Corbacioglu: »Wir können nicht zu 100 Prozent sicherstellen, dass durch die Genschere nicht auch andere DNA-Abschnitte verändert werden. Aktuell müssen wir uns darauf ein Stück weit verlassen.« In das gleiche Horn bläst ein anderer Experte, Privatdozent Dr. Joachim Kunz, Oberarzt der Klinik für pädiatrische Onkologie, Hämatologie und Immunologie am Universitätsklinikum Heidelberg: »Oft wird der CRISPR-Ansatz als sehr präzise Genschere dargestellt, die gezielte Veränderungen im Erbgut ermöglicht. Im Vergleich zu anderen Verfahren ist das auch so. Allerdings können das Schneiden der DNA durch die Genschere und missglückte Reparaturversuche in der Zelle auch unerwünschte Schädigungen des Erbguts provozieren, wie man sie von Krebszellen kennt. Selbst wenn nur einzelne Zellen versehentlich so verändert werden, dass sie einen Wachstumsvorteil gegenüber anderen Stammzellen haben, könnte das im schlimmsten Fall zur Entwicklung einer Leukämie führen. Das ist glücklicherweise bei dieser Gentherapie bisher nicht aufgetreten, aber einer der Gründe, warum die Patienten langfristig eng beobachtet werden müssen.«
Kunz geht in seinem Statement auch auf die Kostenfrage ein. Die Rede sei von 1,5 bis 2 Millionen Euro pro Patient. In Deutschland leben geschätzt allein 3000 bis 4000 Patienten mit Sichelzellanämie. Davon kämen etwa 500 bis 1000 für die neue Therapie infrage, da die Behandlung beginnen sollte, bevor Organschäden eingetreten sind, die gemeinsam mit der Chemotherapie im ungünstigsten Fall zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen könnten. Dem stünden zwar Einsparungen gegenüber, weil die Patienten nicht mehr wegen der Komplikationen der Sichelzellkrankheit behandelt werden müssten. Diese würden aber auch im günstigen Fall erst nach Jahrzehnten die einmaligen Kosten der Gentherapie aufwiegen. Die Erwartung des Experten ist, dass es nach einer potenziellen Zulassung in der EU eine Diskussion darüber geben wird, welchen Preis die Solidargemeinschaft bereit ist zu zahlen und welche Patienten in Anbetracht der voraussichtlich limitierten Verfügbarkeit mit Priorität behandelt werden.