Epstein-Barr-Virus wohl am PIM-Syndrom beteiligt |
Nach Coronainfektionen können Kinder an dem schweren postviralen PIM-Syndrom erkranken – das Epstein-Barr-Virus könnte dafür verantwortlich sein. / © Getty Images/Sebastian Rose
Coronainfektionen treffen Kinder meist nur leicht, doch in seltenen Fällen treten gefährliche Folgen auf: Wochen nach der Infektion gerät ihr Immunsystem außer Kontrolle, attackiert Organe und löst gefährliche Entzündungen aus. Die Folgen können Herzprobleme, Hautausschläge und hohes Fieber sein. Das sogenannte Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome (PIMS) kann auch dann auftreten, wenn die akute SARS-CoV-2-Infektion harmlos oder symptomfrei verlief. Um ein Organversagen zu verhindern, muss das Immunsystem im Krankenhaus supprimiert werden – in der Hälfte der Fälle sogar auf der Intensivstation.
Die Ursachen des PIMS sind noch nicht abschließend. Forschende der Berliner Charité und des Deutschen Rheuma-Forschungszentrums (DRFZ) liefern nun eine Spur: Laut einer Studie im Fachjournal »Nature« könnte eine Reaktivierung des Epstein-Barr-Virus die überschießende Immunantwort auslösen (DOI: 10.1038/s41586-025-08697-6).
»Vereinfacht gesagt erwacht das Virus aus seinem Ruhezustand, weil das Immunsystem der Kinder durch die Coronainfektion durcheinandergerät und die ruhende Infektion nicht mehr in Schach halten kann«, sagt Professor Dr. Tilmann Kallinich von der Klinik für Pädiatrie der Charité, einer der beiden leitenden Autoren der Studie, in einer Mitteilung.
Das Epstein-Barr-Virus (EBV), auch Humanes Herpesvirus 4 (HHV4) genannt, ist ein doppelsträngiges DNA-Virus aus der Familie der Orthoherpesviridae. Die meisten Menschen (etwa 90 Prozent) stecken sich im Verlauf des Lebens mit dem Virus an. Während eine Infektion im Kindesalter meist asymptomatisch verläuft, kann sie bei Jugendlichen und Erwachsenen zum Pfeifferschen Drüsenfieber führen. Diese Erkrankung ist durch Fieber, Lymphknotenschwellungen und Entzündung der Rachenmandeln gekennzeichnet und erfordert teils eine lange Genesungszeit.
Wie andere Herpesviren bleibt EBV nach der Akutinfektion ein Leben lang im Körper. »Das Epstein-Barr-Virus nistet sich in verschiedenen Zellen des Körpers ein und entkommt so der Immunabwehr«, erklärt Kallinich. »Es kann Jahre nach der ersten Infektion wieder aufflammen, beispielsweise, wenn das Immunsystem geschwächt ist.«
Ein solches Aufflammen einer EBV-Infektion hat das Forschungsteam nun auch bei Kindern mit PIMS festgestellt. Für die Studie untersuchte es 145 Kinder im Alter zwischen 2 und 18 Jahren, die wegen PIMS in einem Krankenhaus behandelt worden waren. Zum Vergleich zog es 105 Kinder heran, die ebenfalls eine Coronainfektion durchgemacht, aber kein PIMS entwickelt hatten. Im Blut der Kinder mit PIMS fanden die Forschenden Spuren von EBV sowie Antikörper und große Mengen spezifischer Immunzellen gegen das Virus – ein Hinweis auf eine aktive Auseinandersetzung des Körpers mit dem Erreger.
Der Grund für die Reaktivierung seien die ungewöhnlich großen Mengen des Botenstoffs TGFβ (Transforming Growth Factor beta), die der Körper infolge der Coronainfektion produziert. Das entzündungsdämpfende Molekül hemme die Funktion der Immunzellen und drossele ihre Schlagkraft gegen EBV, berichtet das Team. Dadurch wird laut Dr. Mir-Farzin Mashreghi, stellvertretender wissenschaftlicher Direktor des DRFZ, ein sich hochschaukelndes System in Gang gesetzt: »Der Botenstoff TGFβ hindert die Immunzellen daran, das Epstein-Barr-Virus in Schach zu halten, das sich deshalb wieder vermehren kann. Daraufhin produziert der Körper mehr Immunzellen gegen das Virus, die aber weiter nicht funktionsfähig sind. Das gipfelt schließlich in einer extremen Entzündungsreaktion, die Organe schädigen und potenziell tödlich verlaufen kann.«
Bisher werden zur Behandlung von PIMS Entzündungshemmer wie Immunglobuline oder Corticosteroide eingesetzt. Die neuen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass auch die Blockade von TGFβ gegen PIMS helfen könnte.
Dies gilt laut den Forschenden womöglich auch für Patienten mit Long Covid, denn auch hier gebe es Hinweise, dass die Reaktivierung schlafender Viren eine Rolle spielt. Zudem hingen hohe TGFβ-Spiegel bei Erwachsenen mit schweren Covid-19-Verläufen zusammen. Ob TGFβ-Hemmer bei SARS-CoV-2-bedingten Erkrankungen wirksam sind, müsse in weiteren Studien untersucht werden.
Die EBV-Reaktivierung kann im Körper eine ganze Menge Unheil anrichten. Sie wird mit einer Reihe von Erkrankungen, vor allem Autoimmun- und Krebserkrankungen, in Verbindung gebracht. Eine Schlüsselrolle scheint EBV bei der Entstehung von Multipler Sklerose (MS) zu spielen. Bei Lupus erythematodes, Typ-1-Diabetes und rheumatoide Arthritis könnte eine EBV-bedingte Immunfehlregulation ebenfalls beteiligt sein. Zudem wird eine EBV-Reaktivierung auch mit dem Burkitt-Lymphom, Nasopharynxkarzinom und dem Hodgkin-Lymphom in Verbindung gebracht.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.