England hat 215 Apotheken weniger |
Jennifer Evans |
01.11.2021 11:00 Uhr |
Von den jüngsten Apothekenschließungen sind insbesondere die ärmeren englischen Gemeinden betroffen. / Foto: Imago Images/Jürgen Schwarz
Erst im Februar dieses Jahres hatte der britische Premierminister Boris Johnson noch gegenüber der Fachzeitschrift »The Pharmaceutical Journal« (PJ) betont, dass die Offizinen im Land eine unverzichtbare Rolle bei der Pandemie-Bewältigung spielten und er »keine Apotheken schließen sehen« wollte. In diesem Zusammenhang hatte Johnson ihnen auch mehr Geld in Aussicht gestellt, wie die PZ berichtete.
Fast paradox, dass ausgerechnet in diesem Jahr die Anzahl der Offizinen ihren tiefsten Stand seit 2015/2016 erreicht. Im Vergleich zu 2019/2020 sind es nun nämlich 215 Betriebe weniger. Insgesamt haben 450 Apotheken im Zeitraum 2020/2021 ihre Türen schließen müssen. Demgegenüber stehen 236 Neueröffnungen.
Einer PJ-Analyse aus dem vergangenen Jahr zufolge betreffen die Schließungen überproportional stark die ärmsten Gemeinden. Dort haben demnach im Jahr 2020 fast vier Apotheken pro Woche dichtgemacht. Die sozial benachteiligten Gegenden haben damit viermal so viele Apotheken verloren wie die wohlhabenden Gebiete des Landes.
Damit nicht genug: Auch haben die Vor-Ort-Apotheken 2020/2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum 1,8 Prozent weniger Verordnungen eingelöst. Das zeigen Auswertungen der NHS Business Services Authority (NHS BSA) von Ende Oktober 2021, eine Einrichtung des Gesundheitsministeriums, die den nationalen Gesundheitsdienst unterstützt.
Die Ursache für das Apothekensterben sieht das sogenannte Pharmaceutical Services Negotiating Committee (PSNC) in dem erheblichen Druck während der Coronavirus-Krise begründet, »einer der heftigsten, dem öffentliche Apotheken jemals begegnen mussten«, heißt es. Die Repräsentanten dieses Komitees verhandeln mit dem Gesundheitsministerium über die Belange der Apotheken vor Ort. Trotz staatlicher Zuschüsse sähen sich die Inhaber »intolerablen finanziellen Belastungen» gegenüber, so das PSNC. Zudem ist es besorgt, welchen Einfluss dieser Verlust auf die Versorgung der Patienten haben wird – zumal weitere Offizinen im Lande ebenfalls bereits »an der Grenze der Belastbarkeit stehen«.
»Extrem traurig« macht die Situation auch die Royal Pharmaceutical Society in England. Sie fordert die Regierung auf, genau zu analysieren, welche Auswirkung die Lage auf die gesundheitliche Ungleichheit im Land hat. Als ein schlechtes Zeichen wertet den Verlust auch die National Pharmacy Association: »Apothekenschließungen bedeuten weniger Kapazitäten zu einer Zeit, in der die Bedürfnisse der Gesundheitsversorgung wachsen und man bei den regionalen Angeboten eigentlich einen Gang höher schalten müsste«, zitiert das PJ den Verband. Ohne weitere finanzielle Mittel werde sich dieser Trend fortsetzen und die Offizinen nicht »ihren vollen Beitrag dazu leisten können, damit sich der NHS von der Pandemie erholt«, heißt es weiter.
Das Gesundheitsministerium schätzt die Lage hingegen weniger ernst ein. Ein Ministeriumssprecher hob gegenüber dem Fachjournal hervor, dass die Mehrheit der Schließungen dort stattgefunden hätten, wo ohnehin die nächste Apotheke in 10 Minuten zu Fuß erreichbar sei. Betroffen waren demnach vor allem Filialen der großen Ketten. Darüber hinaus wies der Sprecher darauf hin, dass 80 Prozent der Engländer weiterhin in 20 Fußminuten bei der nächsten Apotheke wären. Allerdings versprach er auch, ein wachsames Auge auf die Folgen für die Versorgung zu haben.
Zum Hintergrund: Öffentliche Apotheken in England befinden sich gemäß Vereinbarung mit dem NHS derzeit mitten in einem fünfjährigen Finanzierungsstopp. Die Regierung war nach Recherchen des PJ im Vorfeld gewarnt gewesen, dass es in Folge des sogenannten Community Pharmacy Contractual Framework für 2019/20 bis 2023/24 zum Apothekensterben kommen würde. Über das entsprechende Gutachten hatte die PZ ausführlich berichtet. Zwar hatte das PSNC laut dem Fachjournal angesichts der Pandemie eine Sonderunterstützung erwirken wollen, aber dafür bereits eine Absage kassiert.