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Rechtsmedizin

»Eigentlich sind wir Dolmetscher«

In der Rechtsmedizin geht es um mehr als Mord und Totschlag. Das betont der Rechtsmediziner Dr. Norbert Beck von der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg im PZ-Interview. Außerdem hat seine Fachrichtung auch Überschneidungen mit den Apothekern.
Jennifer Evans
05.11.2021  09:00 Uhr

PZ: Welche Schnittmengen haben Rechtsmediziner und Apotheker?

Beck: Vordergründig ist die Wirkung beziehungsweise Nebenwirkung von Substanzen und die Beeinflussung des menschlichen Organismus – also im Speziellen die forensische Toxikologie – zu nennen. Da muss man aber nicht nur an suizidale Vergiftungen denken. Auch Fragen wie: Ist der Polamidon-Substituierte fahrtauglich? Gibt es Konsum, der suchttherapeutisch relevant ist? Ist das durch einen Apotheker bei Abgabe der Arzneimittel erkennbar?

Viele Rechtsmediziner sind aber auch in der Ethikkommission tätig und haben so Kontakt zu forschenden Ärzten, die, wenn es sich um Arzneimittelstudien handelt, in der Regel auch Apotheker und Pharmafirmen als Forschungspartner gelistet haben.

PZ: In Film und Fernsehen verschwimmt oft die Trennung zwischen Rechtsmedizin und Pathologie. Was unterscheidet die Bereiche?

Beck: Die bekannteste Tätigkeit von Rechtsmedizinern ist die Untersuchung Verstorbener. Aber der Grund der Fragestellung unterscheidet sich hier schon von der Vorgehensweise des Pathologen. Bei Pathologen dreht sich alles um Krankheiten, Tumore, Entzündungen und deren Verbreitung beziehungsweise tödlicher Ausgang. In der Rechtsmedizin geht es zusätzlich noch um Gewalteinwirkungen. Aber nicht nur, ob diese tödlich waren, sondern auch, ob eine Person sie zu Lebzeiten erhalten hat, und wenn es sich um mehrere tödliche Gewalteinwirkungen handelt, in welcher Reihenfolge diese stattgefunden haben, insbesondere wenn es mehrere Tatverdächtige gibt. Darüber hinaus untersucht ein Rechtsmediziner auch zahlreiche lebende Personen bei Körperverletzungsdelikten, sexualisierter Gewalt, toxikologischen Fragestellungen, aber auch zur Feststellung des Lebensalters, der Paternitätsdiagnostik. Deshalb ist ein Rechtsmediziner eher als Dolmetscher medizinischer und biologischer Sachverhalte für juristische Fragestellungen zu verstehen.

PZ: Womit beschäftigen sich Ihre Kolleginnen und Kollegen, wenn es nicht um Mord und Totschlag geht?

Beck: Es gibt vielfältige juristische Fragestellungen, die sich ohne rechtsmedizinischen Sachverstand nicht klären lassen: Ist die Verletzung durch Sturz oder Schlag entstanden? Welcher Kraftaufwand ist erforderlich, um ein Messer auf 5 Zentimeter in den Brustkorb zu stechen und kann das aus Versehen beim Herumfuchteln passiert sein? Ist der Blutalkoholspiegel von 3,28 Promille geeignet, dass die Steuerungsfähigkeit der beschuldigten Person erheblich beeinträchtigt oder aufgehoben war? Ist es medizinethisch vertretbar, dass die unfallbedingt hirntote Schwangere ihr Kind unter intensivmedizinischen Bedingungen bis zur Geburtsreife austrägt? Ist durch den alleinigen Nachweis von Kokain-Metaboliten, also Benzoylecgonin und Methylecgonin, eine Beeinträchtigung der Fahrtüchtigkeit und Fahrtauglichkeit gegeben? Diese Liste ließe sich schier endlos erweitern.

PZ: Was haben Sie schon alles an sich selbst ausprobiert, um einen Fall zu klären?

Beck: Tatsächlich wenig. Man muss ja nicht alles ausprobiert haben, um festzustellen, dass es nicht gut ist. Ich muss zum Beispiel kein Crystal Meth nehmen, um zu überprüfen, wie die psychoaktive Wirkung und die Suchtpotenz beschaffen sind. Aber manchmal ist es schon dienlich, bestimmte Körperhaltungen einzunehmen, um die Entstehung und den Verlauf von Verletzungen oder Spurenlagen zu rekonstruieren. Teils muss meine Familie auch mal unterstützend zur Seite stehen, insbesondere wenn es um Handlungen mehrerer Personen geht. Dadurch ließ sich auch mal eine Frage problemlos klären: Wie hoch komme ich mit den Händen im Sitzen, wenn die Hände mit Kabelbinder am Rücken gefesselt sind?

PZ: Wie gelingt es Ihnen, sich in kriminelle Gedankengänge hineinzuversetzen? Und funktioniert das mit den Jahren besser?

Beck: Medizin ist unter anderem auch eine Erfahrungswissenschaft. Je mehr ich erlebt habe, desto mehr kann ich aus den Erfahrungen schöpfen. Je mehr Verletzungsbilder ich gesehen und nachvollziehbare Begehungsweisen vermittelt bekommen habe, desto eher werde ich flexible Denkweisen bei Rekonstruktionen praktizieren können. Man muss also versuchen, Ereignisse wie in einem Film mit Rückspultaste immer wieder nachvollziehbar ablaufen zu lassen. Wenn man die gesamte Spurenlage nüchtern betrachtet, geht das durchaus sehr gut, ohne dass man selbst kriminell wird (lacht).

PZ: Gibt es in Ihrer Branche – wie bei den Apothekern – auch einen Fachkräftemangel?

Beck: Leider ja. Man weiß gar nicht, wo man überall die Erklärungen suchen soll, warum die Institute personell immer kleiner werden, die Auftragslage aber eher zunimmt. Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn im Jahr 1988 hatten wir deutschlandweit nicht nur mehr Institute, es war auch deutlich mehr Personal vorhanden, sodass neben der täglichen Routine auch immer ein Team für Forschungsaufgaben zur Verfügung stand. Das ist wichtig für den Standpunkt des Instituts im Kontext universitärer Forschungseinrichtungen. Und es gibt nicht wenige Bereiche, die beforscht werden müssten, denn manche Gewalteinwirkungen kann man noch gar nicht ausreichend erfassen und einordnen, beispielsweise bei der Wirkung von neuen psychoaktiven Substanzen – und da sind wir schon wieder bei der Schnittmenge von Apothekern und Rechtsmedizinern: Wirkung und Nebenwirkungen von Molekülen auf den menschlichen Körper, insbesondere das Zentralnervensystem. 

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