Editorial
Signal der Kirchen
von Dr. Paul Hoffacker
ABDA-Geschäftsführer
Wirtschaft und Sozialpolitik
Das Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland ist ein
deutliches Signal in einer religiösen, politischen und gesellschaftlichen
Umbruchphase. Dieses Wort ist kein nach innen gerichtetes Hirtenschreiben oder
eine Verlautbarung zu einem gesellschaftlich relevanten Teilproblem. Nein, dieses
Wort ist wie eine Fanfare, die aufrüttelt, zum Nachdenken herausfordert und zum
Handeln zwingt.
Das Wort ist hineingesprochen in eine Gesellschaft, die unter einem starken
Werteschwund bis hin zum Werteverlust leidet. "Solidarität und Gerechtigkeit
genießen heute keine unangefochtene Wertschätzung. Dem Egoismus auf der
individuellen Ebene entspricht die Neigung der gesellschaftlichen Gruppen, ihr
partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuordnen", heißt es im
Eingangstext.
Das Wort spricht nicht nur die Gläubigen und Mitglieder der Kirchen an. Es wendet
sich an alle Menschen, nicht nur an diejenigen, die guten Willens sind. Es will
Einstellungen und Verhaltensweisen ändern. Die Verantwortlichen wollen nicht selbst
Politik machen, sondern Politik möglich machen. Es ist gut, daß die Kirchen sich in
dieser Form einmischen, um denjenigen Gehör zu verschaffen, die - um es mit
Brecht zu sagen - im Schatten stehen: Arme, Benachteiligte, Machtlose, die
kommende Generation, die stumme Kreatur.
Schwarz-weiß-Malerei? Herz-Jesu-Sozialismus? Mitnichten. Wir lesen: "Die
Kirchen sehen im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weiterhin ... den geeigneten
Rahmen für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialpolitik." Ein Bekenntnis der
Kirchen zu einem bewährten Wirtschafts- und Sozialsystem. Dies bedarf allerdings
ständiger Reform und Erneuerung sowie Weiterentwicklung. Vor dem Hintergrund
gegenwärtiger Mißbräuche (zerstörerischer Egoismus mit der Folge von Bestechung,
Steuerhinterziehung, Mißbrauch von Subventionen und Sozialleistungen) braucht die
Soziale Marktwirtschaft eine strukturelle und moralische Erneuerung.
In diesem Erneuerungsprozeß sind nicht allein die politischen Gestaltungskräfte in
Parteien und Parlamenten gefordert. Ich sehe eine große Chance für die
gesellschaftlichen Gruppen und Verbände, sich aktiv an dieser Weiterentwicklung
der Sozialen Marktwirtschaft zu beteiligen und insbesondere den Sozialstaat
weiterzuentwickeln.
Es kommt darauf an, daß die staatlich geregelte Versorgung in Alter und Krankheit
durch mehr Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten
gestützt wird. Das Wort der Kirchen spricht von einer ergänzenden Sozialstruktur
und nennt als ihre gestaltenden Träger unter anderem die Netzwerke assoziativer
Selbsthilfe, Bürgerbewegungen, Ehrenämter, Nachbarschaftshilfe.
Für die Heilberufe eröffnen sich viele Chancen der Mitwirkung. Im Wort der
Kirchen wird dies am Prinzip der Subsidiarität verdeutlicht: Bei der Subsidiarität geht
es darum, die Einzelpersonen und die untergeordneten gesellschaftlichen Ebenen zu
schützen und zu unterstützen, nicht jedoch, ihnen wachsende Risiken zuzuschieben.
Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und Sozialstaat gehören insofern
zusammen. Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung befähigen, Subsidiarität heißt
nicht: den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen.
Lesen Sie dazu auch "
Kirchen warnen vor Entsolidarisierung"
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