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Ökosystem-Kontaminierung

Dringender Bedarf an grüneren Arzneimitteln

Der komplexe Lebenszyklus von Medikamenten muss dringend bewertet und reformiert werden, damit die Kontaminierung der Ökosysteme durch Arzneimittel sinkt, fordern Wissenschaftler im Journal »Nature and Sustainability«. Das molekulare Design umweltfreundlicherer Medikamente nehme hierbei eine Schlüsselrolle ein. 
Melanie Höhn
08.07.2024  14:58 Uhr

Die allgegenwärtige Kontamination von Ökosystemen mit pharmazeutischen Wirkstoffen stellt laut der Autorengemeinschaft um Tomas Brodin und Michael G. Bertram von der Swedish University of Agricultural Sciences eine ernsthafte Bedrohung für die Artenvielfalt, Ökosystemdienstleistungen und die öffentliche Gesundheit dar, wie sie in einem Kommentar im Journal »Nature and Sustainability« darlegen. 

Aktive pharmazeutische Wirkstoffe (API) würden zunehmend in Umweltproben und Wildtiergeweben auf der ganzen Welt nachgewiesen und können eine Vielzahl negativer Auswirkungen haben. Die Herstellung, Verwendung und Entsorgung von Arzneimitteln habe dazu geführt, dass Ökosysteme rund um den Globus mit Mischungen pharmazeutischer Wirkstoffe (APIs) sowie deren Metaboliten, Zusatzstoffen, Adjuvantien, Hilfsstoffen und Transformationsprodukten kontaminiert wurden.

Zur Reduzierung der API-Verschmutzung sei ein vielschichtiger Ansatz erforderlich, wobei die Entwicklung nachhaltigerer Arzneimittel eine entscheidende Komponente darstelle. Es bestehe »dringender Handlungsbedarf«, um umweltfreundlichere Arzneimittel zu entwickeln, die ihre Wirksamkeit aufrechterhalten, aber gleichzeitig die Auswirkungen auf die Umwelt minimieren.

»Sicherer Handlungsspielraum überschritten«

Das Ausmaß der API-Verschmutzung zeige eine groß angelegte geografische Studie: Dabei konnten 61 verschiedene Arzneimittel im Flusswasser, das an 1052 Standorten in 104 Ländern auf allen Kontinenten entnommen wurde, nachgewiesen werden. Rund 43 Prozent der beprobten Standorte wiesen Konzentrationen von mindestens einem Arzneimittel auf, die über dem für die ökologische Gesundheit als unbedenklich geltenden Wert lagen. Darüber hinaus wurden an den stärker kontaminierten Standorten komplexe Mischungen vieler Wirkstoffe – maximal 34 – nachgewiesen, darunter eine Vielzahl von Human- und Veterinärarzneimitteln.

Zudem seien kürzlich mehrere Wirkstoffe als prioritäre Stoffe in den neuen Vorschlag der Europäischen Wasserrahmenrichtlinie aufgrund ihrer weiten Verbreitung in Ökosystemen sowie im Grundwasser aufgenommen worden. Darüber hinaus habe die Kontamination von Ökosystemen mit neuartigen Chemikalien, einschließlich Arzneimittelrückständen, dazu geführt, dass die Menschheit den sicheren Handlungsspielraum der Planetengrenze für neuartige Lebewesen überschreitet.

Schwerwiegende Störungen bei Tieren

Seit Jahrzehnten häuften sich zudem die Hinweise darauf, dass die Exposition gegenüber Spurenkonzentrationen von Wirkstoffen und deren Mischungen bei Wildtieren zu schwerwiegenden Entwicklungs-, Physiologie-, Morphologie- und Verhaltensstörungen führen könne. Beispielsweise waren männliche Fische, die dem empfängnisverhütenden Östrogen 17α-Ethinylestradiol ausgesetzt waren, feminisiert und hatten damit verbundene Fortpflanzungsstörungen, die in einem Experiment zu einem schweren Populationszusammenbruch führten.

»Solche Veränderungen des Überlebens und der Fortpflanzung von API-exponierten Arten werden unweigerlich kaskadierende Auswirkungen auf die Ökologie und Entwicklung von Wildtierpopulationen und -gemeinschaften haben und möglicherweise zu Populationsrückgängen und lokalem Aussterben führen«, sind sich die Autoren einig. Sogar nicht exponierte Arten könnten durch indirekte Auswirkungen beeinträchtigt werden, wie etwa eine verringerte Verfügbarkeit von Beutetieren oder verstärkte Konkurrenz.

Darüber hinaus stelle die API-Verschmutzung eine Bedrohung für Menschen und Wildtiere gleichermaßen dar, wie sich im Fall der in die Umwelt freigesetzten Antibiotika zeige, »die als Selektionsdruck wirken und die Mobilisierung und den horizontalen Transfer einer breiten Palette von Antibiotikaresistenzgenen fördern können«, so die Autoren. Das Problem der API-Verschmutzung trete darüber hinaus vor dem Hintergrund zahlreicher anderer anthropogener Belastungen der biologischen Vielfalt und der Ökosystemleistungen auf. Dazu gehören ein sich veränderndes Klima, die Zerstörung und Fragmentierung von Lebensräumen, die Übernutzung natürlicher Ressourcen und invasive Arten sowie die Kontamination von Ökosystemen mit anderen Schadstoffklassen, insbesondere in schnell urbanisierenden Gebieten.

»Lebenszyklus von Arzneimitteln reformieren«

Um die Umweltverschmutzung durch Arzneimittel zu verringern, müssten die Pharmaindustrie sowie Kundinnen und Kunden laut der Autoren »viele Aspekte des komplexen Lebenszyklus von Arzneimitteln bewerten und reformieren«:

  • Erstens brauche es fundiertere und nachhaltigere Verschreibungspraktiken, »da das ökologisch nachhaltigste Arzneimittel eines ist, das weder vorgeschrieben noch verschrieben wird«, so die Autoren. Dies erfordere Schulungen für medizinisches Fachpersonal, unter anderem für Apotheker, Ärzte, Krankenschwestern und Tierärzte. Zudem sollten Verschreibungsrichtlinien erstellt werden, die die Umweltauswirkungen von Arzneimitteln berücksichtigen.
  • Zweitens seien öffentliche Sensibilisierungskampagnen von entscheidender Bedeutung, da derzeit nur ein begrenztes Bewusstsein dafür bestehe, wie sich verschreibungspflichtige und rezeptfreie Medikamente negativ auf die Umwelt auswirken können, etwa durch falsche Entsorgung. Pädagogische und soziologische Ansätze zur Förderung eines informierteren und verantwortungsvolleren Kaufs und Einsatzes von Arzneimitteln seien ein entscheidender Bestandteil einer Gesamtstrategie, würden das Problem der API-Verschmutzung jedoch nicht vollständig beseitigen.
  • Drittens müssten umweltfreundlichere Arzneimittel entwickelt werden, die in der Umwelt leichter und vollständiger abgebaut werden – dies sei der Schlüssel zur Reform des Arzneimittellebenszyklus. In dieser Hinsicht könne die Umweltpersistenz anhand standardisierter Grenzwerte beurteilt werden, die von Regulierungsbehörden, wie etwa der Europäischen Chemikalienagentur und der US-Umweltschutzbehörde, festgelegt werden. Auch die Arzneimittelherstellung müsse im Hinblick auf die Umweltfreundlichkeit optimiert werden, einschließlich der Reduzierung der Abfallerzeugung und des Energieverbrauchs. Es werde erwartet, dass die Einführung der Produktion umweltfreundlicher Medikamente sowohl für den Ruf als auch für die Wirtschaft der Pharmahersteller von Vorteil sein werde, unter anderem durch die Anziehung umweltbewussterer Kunden und Investoren. Um diese Veränderungen zu untermauern und durchzusetzen, seien jedoch eine stärkere Regulierung und eine stärkere Aufsicht erforderlich, beispielsweise durch das Verursacherprinzip, bei dem der Verursacher die Kosten für Maßnahmen zur Vermeidung und Kontrolle der Umweltverschmutzung tragen müsse.
  • Viertens müssten die Abwasseraufbereitungsprozesse verbessert und ausgebaut werden, um möglichst zu verhindern, dass Wirkstoffe in die Umwelt gelangen. In diesem Zusammenhang fließen derzeit weltweit mindestens 48 Prozent des gesamten Abwassers ohne Behandlung in Ökosysteme, was die dringende Notwendigkeit unterstreiche, die geografische Ausdehnung der Abwasserbehandlungsinfrastruktur zu vergrößern. Darüber hinaus sei es von entscheidender Bedeutung, die Wirksamkeit der Abwasserbehandlung zu verbessern, wenn man bedenke, dass herkömmliche Kläranlagen nicht für die Entfernung von APIs ausgelegt sind. Im weiteren Sinne sei es bei der Reform des Arzneimittellebenszyklus wichtig, dass der »One-Health-Ansatz« – also die Anerkennung der Wechselwirkungen zwischen Menschen, Tieren und ihrer gemeinsamen Umwelt – in den rationalen Einsatz aller Arzneimittel integriert werde.

Schlüsselrolle molekulares Design

Obwohl die verschiedenen soziologischen und technologischen Interventionen wichtige Bestandteile einer Gesamtstrategie sind, sei das molekulare Design umweltfreundlicherer Medikamente von grundlegender Bedeutung für die Reduzierung der Umweltverschmutzung. Da das Arzneimitteldesign der erste Schritt im Arzneimittelproduktions- und -verbrauchszyklus sei, verringerten umweltfreundlichere Arzneimittel das Verschmutzungspotenzial im gesamten Zyklus und würden so den Bedarf an anderen nachgelagerten Minderungsmaßnahmen reduzieren. »Daher sollten Arzneimittel sowie ihre Zusatz-, Hilfs- und Hilfsstoffe nicht nur so konzipiert sein, dass sie wirksam und sicher sind, sondern auch nach der Ausscheidung schnell und vollständig zu Kohlendioxid und Wasser mineralisiert werden«, so die Autoren. Dieser als »benign by design« bekannte Ansatz sei ein zentraler Aspekt der grünen Pharmazie.

Patentverlängerungen oder schnellere Zulassungen für leichter abbaubare Arzneimittel könnten ebenfalls als Anreiz für die Entwicklung leichter umweltfreundlicher biologisch abbaubarer und mineralisierender Arzneimittel geprüft werden. Darüber hinaus sollten Ergebnisse von Umweltrisikobewertungen, insbesondere wenn sie auf mechanistischen Informationen basieren, die einen plausiblen Zusammenhang mit unerwünschten Folgen haben, bei der Gestaltung und der Risiko-Nutzen-Analyse von Arzneimitteln unter Berücksichtigung der Schwere der Erkrankung und der vorhandenen verfügbaren Alternativen berücksichtigt werden.

»Da wir uns darüber im Klaren sind, dass der Zugang von Patienten zu Arzneimitteln auch in Zukunft von entscheidender Bedeutung sein wird, fordern wir Arzneimittelentwickler und -hersteller, Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger auf, die wachsende Umweltbedrohung durch APIs zu erkennen und dem nachhaltigen molekularen Design umweltfreundlicherer Arzneimittel dringend Priorität einzuräumen, um weitere Umweltschäden zu verhindern«, resümieren die Autoren.

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