Die Renaissance der Lehmhütte |
| Jennifer Evans |
| 21.08.2023 07:00 Uhr |
Aktuell leben weltweit rund drei Milliarden Menschen in Lehmbauten. Wird das Bauen mit dem Material in der westlichen Welt erschwinglicher, könnte es bald noch mehr Lehmhausbewohner geben. / Foto: Adobe Stock/franzeldr
Lehmarchitektur ist etwas in Vergessenheit geraten – zumindest in der westlichen Welt. Dabei gehörte sie eigentlich einmal zur europäischen Kultur. Gegen ihr schlechtes Image war sie aber ziemlich machtlos. Die Bauten galten als zu dunkel und wenig witterungsbeständig – und schon gar nicht als schick. Doch mit dem globalen Bestreben zu mehr Nachhaltigkeit tauchte die gute alte Tradition wieder aus der Versenkung auf.
Viel dazu beigetragen hat die Architektin Anna Heringer. Die gebürtige Oberbayerin ist Ehrenprofessorin des UNESCO-Lehrstuhls für Lehmarchitektur, Baukulturen und nachhaltige Entwicklung. Die Begeisterung für das Ton-Sand-Gemisch entstand während ihres Diplomarbeitsprojekts in Bangladesch, für das sie 2007 den Aga Khan Award for Architecture gewann.
Nach den Vorteilen des Baustoffs ist Heringer natürlich schon oft gefragt worden. Doch die Lehmbaumeisterin scheint niemals müde zu werden, diese immer wieder öffentlich anzupreisen. Als Material eignet sich Lehm für jeden, weil der Einsatz der bloßen Hände genügt, um ihn zu verarbeiten oder ihm Gestalt zu verleihen. Außerdem speichert er Wärme und spart auf diese Weise einiges an Energie ein.
Bei dem natürlichen Baumaterial kommen zudem automatisch lokale Ressourcen zum Einsatz, wodurch Transportwege immer kurz sind. Und mehr noch: Lehmbauten lassen sich gut reparieren, weil das Material wasserlöslich ist. Als Baustoff ist er darüber hinaus zu hundert Prozent recycelbar. Viel Spielraum für ästhetische Kombinationen mit Holz oder Stein gibt es ebenfalls. Auch strahlt er optisch mehr Wärme aus als Stahl, Beton oder Aluminium.
Aber eignet sich Lehm tatsächlich als Baustoff der Zukunft? Heringer hat daran jedenfalls keine Zweifel. Ihrer Ansicht nach braucht der Zement ganz dringend eine Alternative. Und Lehm existiert ja praktischerweise schon kostenlos überall. Die Fachwerkbauten in einigen Regionen Deutschlands beweisen, wie beständig der Baustoff sein kann. Seine CO2-Bilanz kann sich ebenfalls sehen lassen, die tendiert nämlich gegen null. Denn Lehm ist Erde, die keine zusätzliche Energiezufuhr benötigt. »Für mich ist Nachhaltigkeit ein Synonym für Schönheit«, schreibt Heringer auf ihrer Website. »Ein Gebäude, das in Design, Struktur, Technik und Materialverwendung genauso harmonisch ist wie in Bezug auf Standort, Umwelt, Nutzer und den soziokulturellen Kontext. Das ist es, was für mich seinen nachhaltigen und ästhetischen Wert ausmacht.«
Einen Knackpunkt hat der Lehm aber dann doch: Er eignet sich nicht als Fundament. Da muss wieder der Beton herhalten, wie die Architektin kürzlich gegenüber dem »Deutschlandfunk Kultur« berichtete. Dort adressierte sie auch deutlich ihre Kritik an der Bauindustrie, die Lehmhäuser einst als arm und wenig solide darstellte. Dabei handelt es sich laut der Lehmexpertin bei dem Material nicht nur um den gesündesten Baustoff für Mensch und Planeten, sondern auch um eine langlebige Lösung. Demzufolge kann Lehm – gut geschützt – mehr als 100 Jahre lang halten.
Die Architektin ärgert sich, dass Lehmarchitektur im Verhältnis zu anderen Bauweisen derzeit (noch) relativ teuer ist. In ihren Augen sollten dagegen die anderen – und deutlich ungesünderen Materialien – mehr kosten. Schließlich sei Lehm bei jeder Aushebung ohnehin vorhanden, müsse nur genutzt statt weggekippt werden. »Architektur ist ein Werkzeug, das unsere Leben verbessert«, schreibt sie auf ihrer Website.
Heringer appelliert daran, den Baustoff in Zukunft öfter in regionale Fabriken zu bringen, die daraus Blöcke stampfen oder Lehmziegel herstellen. Außerdem arbeitet sie an der Entwicklung neuer Werkzeuge, mit denen sich Lehm besser bearbeiten lässt. Das könnte künftig die Baukosten drosseln. Bis dahin wird es aber wohl noch eine Weile dauern. Das bremst Heringer aber nicht aus. Im Gegenteil. Sie bleibt idealistisch und will in der Zwischenzeit Menschen für die Schönheit ihrer Architektur begeistern und auf diese Weise ein Umdenken anstoßen.
Gleichzeitig verfolgt Heringer mit ihren Bauprojekten noch eine ganz andere Vision. Der kreative und aktive Prozess, mit Lehm zu arbeiten, hat in ihren Augen auch eine starke soziale Komponente. Er bringt Menschen zusammen, fördert die Kommunikation, schafft Gemeinschaft und Zugehörigkeit.
Einen solchen Teamgeist hat sie nach eigenen Angaben selbst schon häufiger miterleben dürfen, unter anderem bei ihrem Bauprojekt im Wormser Dom, wo sie den Altar mit Lehm neu gestaltete. »In unserer materialistischen Gesellschaft fehlt uns weder Material noch Attraktivität. Was wir vermissen, ist Sinn und Beziehungen«, schreibt sie. Heringer ist überzeugt davon, dass Bauprojekte unser Gemeinschaftsgefühl stärken und zum Glück eines jeden Einzelnen beitragen können.