Die Galerie der Gebrechen |
Jennifer Evans |
22.05.2025 09:00 Uhr |
Kunst und Krankheit: Mit Röntgenaugen schauen sich Ikonodiagnostiker Leiden auf Leinwänden an. Auf Michelangelos Fresko »Die Sintflut« von 1508/09 gibt es viel zu entdecken. / © akg Images/André Held
PZ: Sie erkennen Darstellungen von Krankheiten, die Museumsbesucher in Kunstwerken oft übersehen. Ignorieren andere das Leid oder haben Sie einfach nur einen geschulteren Blick?
Andreas Nerlich: Als Pathologe hat man natürlich eine berufsbezogene Wahrnehmung, die es erleichtert, Fehlbildungen oder Abnormalitäten wahrzunehmen. Vielleicht ist es aber auch die mangelnde Scheu davor, anzuerkennen, dass Krankheiten schon immer ihren Weg in die Kultur und Kunst gefunden haben.
PZ: Haben Künstler damals auch Phänomene gemalt, für die seinerzeit die Medizin noch keine Erklärung hatte?
Nerlich: Absolut. Allerdings existierte ebenfalls schon ein Anspruch auf Realität. War der Künstler also angehalten, einen Menschen ungeschönt mit Narben oder kaputten Augen abzubilden, hat er es gemacht. Und so fanden solche Phänome Einzug in die Kunst. Auf der anderen Seite sind krankhafte Befunde oder Missbildungen gerne auch symbolisch oder metaphorisch verwendet worden, um auf negative Seiten einer Person hinzuweisen.
PZ: Und es gab auch bestimmte Konventionen für Darstellungen wie Porträts …
Nerlich: Richtig. Auch das muss man bedenken. Bei den alten Ägyptern beispielsweise ist kaum ein Abbild eines Menschen aus dem üblichen Kanon abgewichen – höchstens mal, wenn dieser besonders zwergenhaft war. Dagegen haben die Griechen und Römer sehr großen Wert auf Individualdarstellungen gelegt. Im Mittelalter wird wieder alles sehr streng regelgebunden dargestellt. Und mit der Renaissance bricht das Schema erneut auf; der Mensch soll wieder so dargestellt werden, wie er ist. All diese Punkte muss man im Hinterkopf haben, wenn man nach krankhaften Befunden in der Kunst sucht. Und manchmal hat auch einfach der Künstler einen Fehler gemacht.
PZ: Gerade für hochrangige Persönlichkeiten sind solche körperlichen Schwächen auf einem Gemälde ja auch mit einem Verlust an Respekt und Vertrauen einhergegangen, oder?
Nerlich: Das ist richtig. Wie bei Tizians Porträt von Kaiser Karl V. mit der sogenannten Habsburger Lippe und Unterkiefer: Dieser starke Unterbiss samt gespaltener Lippe zog sich durch die gesamte spanische Linie der Habsburger Familie und bereitete den Betroffenen Probleme beim Kauen, Schlucken und Sprechen. Von Karl V. gibt es sowohl authentische Bilder mit dieser Fehlbildung als auch deutlich geschönte, auf denen das starke Individualmerkmal kaum sichtbar ist. Das hängt eben sehr vom Auftraggeber und den zeitlichen Konventionen ab. Einigen war die persönliche Schönheit auch egal, denn dem Kaiser mussten sich eh alle unterordnen.
PZ: Welche Krankheiten, die noch auf alten Gemälden eingefangen sind, gibt es heute kaum oder gar nicht mehr?
Nerlich: Lepra zum Beispiel, die damals in Europa epidemische Ausmaße einnahm, jetzt aber praktisch nur noch im Tropengürtel zu finden ist. Manchmal kann die metaphorische Abbildung des Übels anders aussehen, als man Lepra heute sieht, zumal bei den Darstellungen von Krankheit beziehungsweise Genesung häufig auch die Mildtätigkeit von Heiligen eine Rolle spielte und hervorgehoben werden sollte.
PZ: In welchen Werken der Großen Meister sind eindeutig krankhafte Befunde abgebildet?
Nerlich: Ganz bekannt ist die Darstellung in einem Deckengiebel der Sixtinischen Kapelle. Michelangelos Fresko »Die Sintflut« zeigt eine Frau mit einem Brustkrebsgeschwulst. Sie ist dem Betrachter zugewendet und hat einen fast todtraurigen Ausdruck im Gesicht. Während die linke Brust normal ist, zeigt die rechte Brust eindeutig eine Veränderung, die unserer Meinung nach sehr stark für die Darstellung von Brustkrebs spricht. Und damals verlief eine solche Erkrankung unweigerlich tödlich. Wir glauben, dass Michelangelo, der sich schon seit früher Jugend mit Anatomie beschäftigte, dieses Detail als zusätzliches Stilmittel einbaute. Eine Anspielung auf die Endlichkeit, Vergänglichkeit oder auch den Tod. Eine ähnlich eindrückliche Verformung der Brust ist auf einer Kohlezeichnung von Rembrandt zu finden. Bei den Folgeabzügen, die er dann später verkaufen wollte, taucht sie allerdings nicht mehr auf.
PZ: Was ist an den Erkrankungen dran, die der Mona Lisa nachgesagt werden?
Professor Dr. Andreas Nerlich hat eine Vorliebe für Kunstwerke aus der Renaissance. / © privat
Nerlich: Das ist ein gutes Beispiel dafür, dass man mit solchen Diagnosen sehr vorsichtig sein sollte. Aus diesem Grund gibt es auch internationale wissenschaftliche Richtlinien für Ikonodiagnostik. Bestimmte kunsthistorische Kriterien gilt es nämlich zunächst zu prüfen, bevor man mit einer Diagnose übers Ziel hinausschießt. Die Gelbfärbung der Haut der Mona Lisa ist auf die Erneuerung des Firnis zurückzuführen, einer transparenten Schutzschicht auf Gemälden. Dasselbe gilt für die Gelbsucht, die man dem juvenilen Bacchus von Caravaggio aufgrund eines Leberschadens infolge übermäßigen Alkoholgenusses zuschrieb. Doch auch dort hat sich der Firnis im Laufe der Jahre gelblich verfärbt. Gleichermaßen ergibt in diesem Fall der Kontext des Bildes keinen Anlass dazu, von einer krankhaften Situation auszugehen. So zeigt auch ein Selbstbildnis von Dürer, auf dem er mit gelocktem Haar zu sehen ist, neben seinem rechten Auge einen bräunlichen Fleck. Dieser ist aber kein Hinweis auf eine Erkrankung, sondern bei der Retusche entstanden. Missachtet man in der Ikonodiagnostik solche Aspekte, ist man ganz schnell auf der falschen Spur.
PZ: In Gemälden ließ sich ja einiges vertuschen. Als jedoch die Fotografie aufkam, war das nicht mehr so einfach.
Nerlich: Stimmt, wie bei König Ludwig I. von Bayern, der sich schon als Kronprinz porträtieren ließ. Auf diesen Bildern ist von seinen Pockennarben nichts zu sehen – während sie auf späteren Fotos deutlich zu erkennen sind. Listete man ikonodiagnostische Erkenntnisse einmal systematisch auf, tauchen sicher Beispiele aus den allermeisten Fachgebieten der Medizin auf – von Augenkrankheiten und Nervenstörungen über internistische Krankheiten bis hin zu Verletzungen und deren Folgen.
PZ: Was können Mediziner heute mit diesem Wissen anfangen?
Nerlich: Studien belegen, dass dieserart plakative Darstellungen von Krankheiten beim Lernen medizinischer Sachverhalte von Vorteil sind. Das Gehirn ist offensichtlich bereiter, sich etwas zu merken, wenn sich das Wissen mit bestimmten Kunstwerken verbinden lässt. Wir würden gerne eine solche Lernplattform etablieren. So ließe sich medizinisch relevantes Fachwissen noch auf eine neue Art und Weise im Gehirn verankern. Außerdem lassen sich durch die Ikonodiagnostik Erkenntnisse bei Funden von Mumien oder Skeletten ergänzen.
PZ: Haben Sie eine Lieblingsepoche?
Nerlich: Ja, die Renaissance, weil man da merkt, wie die Kunst aus der doch strengen mittelalterlichen Vorgabe herausbricht und richtig aufblüht. Wer sich für Ikonodiagnostik interessiert, kann inzwischen auch gut im Internet auf Wanderschaft gehen, viele Werke sind inzwischen digitalisiert. Aber Achtung bei der modernen Kunst. Wenn Pablo Picasso eine schiefe Nase malte, hat das nichts mehr mit Krankheit zu tun, sondern mit Kubismus.