Die Forschung geht weiter |
Die Herstellung von Remdesivir ist sehr aufwendig. Gilead hat die Produktion bereits im Januar hochgefahren, wird aber voraussichtlich erst im September ausreichend Wirkstoff zur Verfügung haben, um die weltweite Nachfrage zu decken. / Foto: Gilead Sciences, Inc
PZ: Stimmt es, dass Remdesivir eigentlich als Ebola-Medikament entwickelt wurde?
Kissel: Ebola ist tatsächlich die Indikation, in der Remdesivir vor Covid-19 am intensivsten untersucht wurde. Aber es als Ebola-Medikament zu bezeichnen, ist nicht richtig, denn es wurde nie gegen Ebola zugelassen. Remdesivir ist ein antivirales Breitspektrum-Medikament, das im Labor eine antivirale Wirksamkeit gegen ganz unterschiedliche Virustypen gezeigt hat. Die Entwicklung begann vor circa zehn Jahren. In vitro und in vivo wurde es unter anderem gegen das respiratorische Synzytialvirus, die Coronaviren SARS und MERS, das Nipahvirus und Paramyxoviren getestet, an Patienten aber bislang nur bei Ebola und Covid-19.
PZ: Strebt Gilead eine Zulassung auch für andere Virusinfektionen an?
Kissel: Eine Zulassung bei Ebola ist noch nicht ganz vom Tisch. Remdesivir hat zwar in der PALM-Studie, in der vier Medikamente miteinander verglichen wurden, eine vergleichsweise geringe Wirkung gezeigt, sodass der entsprechende Arm beendet wurde. Dennoch ist eine weitere Studie in Vorbereitung mit Patienten, die Ebola überlebt haben. Momentan sind wir ganz auf Covid-19 fokussiert.
PZ: Was konnte Remdesivir in Studien bei Covid-19 bislang zeigen?
Kissel: Das wichtigste Ergebnis war sicher die Zwischenauswertung der ACTT-Studie, die unter der Federführung der US-amerikanischen Gesundheitsbehörde NIH steht. Diese Studie enthält auch einen Placeboarm. Die Zwischenauswertung zeigte, dass die Zeit bis zur Entlassung aus dem Krankenhaus um vier Tage verkürzt war bei Patienten, die mit Remdesivir behandelt wurden. Das waren Patienten, die zum großen Teil auf Intensivstation waren und auch beatmet wurden.
Wenn wir jetzt über die Mortalität sprechen, also die Frage: Rettet Remdesivir Leben? Da würde ich sagen, es gibt Hinweise dafür, dass es wahrscheinlich so ist, aber der letztliche Beweis steht noch aus. Kürzlich wurden Daten der SIMPLE-Severe-Studie von Gilead bei einer Konferenz präsentiert, die eine 62-prozentige Verringerung der Mortalität gegenüber einer gematchten Vergleichsgruppe zeigen. Diese Studie enthält allerdings keinen Placeboarm.
PZ: Laufen alle diese Studien noch?
Dr. Karsten Kissel, Executive Director, Medical Affairs Germany bei Gilead / Foto: Gilead
Kissel: Ja. Bei den drei großen Studien, der NIH-Studie und den beiden SIMPLE-Studien von Gilead, beziehen sich die Publikationen bislang erst auf wenige Hundert Patienten. In die Studien sind aber zum Teil mehrere Tausend Patienten eingeschlossen. Wir erwarten überall noch Veröffentlichungen mit längerer Nachbeobachtungsdauer und höheren Fallzahlen. Da werden wir hoffentlich auch eine Bestätigung der Sicherheitsdaten sehen und einen signifikanten Überlebensvorteil.
PZ: Wann ist mit den nächsten Ergebnissen zu rechnen?
Kissel: Das Entscheidende ist hier die NIH-Studie. Von der wissen wir nicht genau, wann die Analyse veröffentlicht wird, weil Gilead die Studie nicht selbst durchführt. Eigentlich müssten die Daten vorliegen. Es wird also wahrscheinlich nicht mehr lange dauern.
PZ: Werden auch bestimmte Kombinationstherapien getestet?
Kissel: Es kristallisiert sich heraus, dass man bei Covid-19 antivirale und antientzündliche Behandlungen kombinieren beziehungsweise sequenzieren muss, und zwar indem man die antiviralen Therapien früher im Verlauf gibt und die antientzündlichen später. Zu späteren Zeitpunkten spielt die Virusreplikation keine so große Rolle mehr, dafür aber die Immunvorgänge in der Lunge. Im Moment laufen Studien mit Remdesivir in Kombination mit dem Interleukin-6-Rezeptor-Antagonisten Tocilizumab und mit dem Januskinase-Inhibitor Baricitinib. Auch eine Kombination mit Dexamethason ist denkbar.
PZ: Wie lange dauert eine Behandlung mit Remdesivir?
Kissel: Als Anwendungsdauern wurden zehn und fünf Tage untersucht und auch verglichen. Die Wirksamkeit unterschied sich nicht, aber teilweise gab es Hinweise, dass die kürzere Therapie besser verträglich ist. Daher scheint sich die fünftägige Behandlung jetzt als Standard durchzusetzen. Das spart auch Produkt ein.
PZ: Gutes Stichwort. Reicht denn die zur Verfügung stehende Menge an Remdesivir für alle Patienten, die damit behandelt werden müssen?
Veklury wird Kliniken in Deutschland momentan aufgrund einer Vereinbarung zwischen Gilead und der Bundesregierung zur Verfügung gestellt. / Foto: Gilead Sciences, Inc
Kissel: Insgesamt ist die verfügbare Wirkstoffmenge momentan noch etwas knapp, wobei sie in Deutschland angesichts der epidemiologischen Lage ausreicht. Wir haben schon im Januar angefangen, die Produktion hochzufahren, aber der Herstellungsprozess ist langwierig. Anfangs hat er bis zu zehn Monate gedauert. Inzwischen konnten wird die Produktionszeit auf sechs bis acht Monate senken, sodass wir damit rechnen, ab September oder Oktober eine größere Menge Wirkstoff zur Verfügung haben und dann die Nachfrage erfüllen zu können.
PZ: Nach welchen Kriterien wird denn der knappe Wirkstoff verteilt?
Kissel: Im Turnus von 14 Tagen wird von einem unabhängigen Gremium beraten, wo global betrachtet der größte Bedarf besteht. Danach richtet sich die Verteilung aus.
PZ: Aber haben sich denn nicht die USA schon einen Teil der Produktion gesichert?
Kissel: Die USA sind im Moment einer der Schwerpunkte der Pandemie. Daher gibt es die Vereinbarung mit der US-Regierung, dass ein sehr großer Anteil, nämlich 90 Prozent der Produktion, den USA zugeteilt werden. Mit den restlichen 10 Prozent haben wir aber immer noch genug Jongliermasse, um auf Veränderungen der epidemiologischen Lage weltweit einzugehen. Gilead hat auch mit der Bundesregierung und den Regierungen anderer Länder Abkommen geschlossen. Momentan können Kliniken in Deutschland aufgrund dieser Vereinbarung Veklury direkt beziehen. Eine klassische Markteinführung ist noch nicht erfolgt und dafür gibt es momentan auch noch keinen Zeitpunkt.
PZ: Wo ist Remdesivir denn jetzt überall zugelassen?
Kissel: In den USA hat es eine Emergency Use Authorisation, das ist keine Vollzulassung, sondern eher eine Ausnahmegenehmigung. Zulassungen gibt es in Japan, Taiwan, Singapur, Indien, in den Vereinigten Arabischen Emiraten und in der EU. Die europäische ist zwar eine bedingte Zulassung, aber das ist im Prinzip eine Vollzulassung, die zeitlich befristet ist und zunächst für ein Jahr gilt.
PZ: Wie geht es mit der EU-Zulassung weiter?
Kissel: Wie bereits vor der Zulassung während des sogenannten Rolling Reviews werden der Europäischen Arzneimittelagentur auch weiterhin alle neuen Daten zu Remdesivir sofort mitgeteilt. Darauf basierend kann die EMA dann die Befristung aufheben, sodass Remdesivir eine permanente Zulassung bekommt, sie kann die Befristung verlängern oder die Zulassung zurücknehmen, wenn es beispielsweise keine Notwendigkeit mehr gibt oder die Daten es nicht mehr hergeben. Es sind ja auch neue Studien geplant, etwa bei Schwangeren und bei kleinen Kindern.
PZ: Für diese Patientengruppen gilt die momentane Zulassung nicht?
Kissel: Die Zulassung schließt momentan Patienten ab zwölf Jahren ein, sofern sie mindestens 40 kg wiegen. Schwangere wurden bereits etwa im Rahmen des Härtefall-Programms mit Remdesivir behandelt. Das hat der EMA aber nicht ausgereicht, die Zulassung auch explizit für Schwangere auszusprechen. Momentan darf Remdesivir laut Fachinformation während der Schwangerschaft nicht angewendet werden, es sei denn, dass eine Behandlung aufgrund des klinischen Zustands der Frau erforderlich ist. Aus diesem Grund ist eine Studie mit Schwangeren geplant. Das macht man im Allgemeinen sehr selten und es zeigt, dass wir bei Gilead sehr zuversichtlich sind, dass Remdesivir in der Schwangerschaft sicher sein dürfte.
PZ: Gibt es noch andere Patientengruppen, bei denen man vorsichtig sein muss?
Kissel: Aufpassen muss man bei vorbestehenden Leber- und Nierenschäden. Bei einer Erhöhung des ALT-Spiegels über dem Fünffachen der Normgrenze und einer glomerulären Filtrationsrate unter 30 ml pro Minute sollten Mediziner keine Behandlung mit Remdesivir einleiten.
PZ: Wo wird Veklury hergestellt?
Kissel: Es gibt zwei große Wege der Herstellung: zum einen die Gilead-eigene Produktion für die USA, Deutschland und andere Industrienationen und zum anderen die Auslizenzierung an Generikafirmen für ökonomisch schwächere Länder, zum Beispiel Indien. Die Generika sind ausschließlich zum Verbrauch in den entsprechenden Territorien vorgesehen und werden zu dort erschwinglichen Preisen in den Verkehr gebracht. Mit ähnlichen Modellen haben wir bereits im HIV-Bereich gute Erfahrungen gemacht.
PZ: Was kostet eine Behandlung mit Veklury?
Kissel: Momentan noch gar nichts, denn wir haben unsere bisherige Produktion von 1,5 Millionen Ampullen kostenlos zur Verfügung gestellt. Inzwischen gibt es aber einen Preis für den Zeitraum nach der Spendenphase, und zwar 390 US-Dollar pro Ampulle (336 Euro). Eine fünftägige Behandlung kostet somit 2340 US-Dollar (2019 Euro), denn am ersten Tag werden zwei Ampullen (200 mg) gegeben und danach täglich 100 mg. Das ist ein einheitlicher Preis, der für alle Länder mit Ausnahme der mit Generika-Lizenzen gleich ist und zu dem Zeitpunkt der Markteinführung in die entsprechende Landeswährung umgerechnet werden wird.
PZ: Es gab die Ankündigung, dass ein inhalatives Remdesivir-Präparat entwickelt werden soll. Ist der Wirkstoff tatsächlich Remdesivir oder der Metabolit GS-441524, von dem zu lesen war?
Kissel: Das ist Remdesivir. Wir fokussieren uns momentan voll auf Remdesivir. Die inhalative Formulierung wird bereits in einer Phase-I-Studie erprobt. Das ist aus verschiedenen Gründen sehr vielversprechend. Zum einen findet das Infektionsgeschehen im Respirationstrakt statt, zum anderen besteht die Hoffnung, dass man auf diesem Weg vielleicht eine geringere Dosis braucht. Möglicherweise wäre es sinnvoll, es schon früher im Krankheitsverlauf einzusetzen. Aber das muss alles erst untersucht werden. Die Kunst wird sein, die richtige Patientengruppe und den richtigen Zeitpunkt für den Einsatz zu finden.