Die Folgen der Pest in unserem Genom |
Theo Dingermann |
24.10.2022 15:10 Uhr |
Einige Genvarianten halfen in der Pestepidemie, den »Schwarzen Tod« zu überleben, und wurden dadurch positiv selektiert. / Foto: Adobe Stock/ blackboard
Als der »Schwarze Tod« 1348 Europa heimsuchte, tötete die durch Yersinia pestis verursachte bakterielle Infektion schätzungsweise ein Drittel der damaligen europäischen Bevölkerung. Etwa 25 Millionen Menschen fielen in den fünf Jahren bis 1352 der Pest zum Opfer. Gestoppt wurde dieses Massensterben auch durch natürliche Selektion auf Basis mehrerer Mutationen, von denen die prominenteste im Gen für ERAP2 liegt, wie Wissenschaftler um Dr. Jennifer Klunk vom McMaster Ancient DNA Centre der McMaster University in Hamilton, Ontario, und Dr. Tauras P. Vilgalys von der Section of Genetic Medicine der University of Chicago, jetzt im Fachjournal »Nature« berichten.
Ähnlich wie bei der aktuellen, durch SARS-CoV-2-verursachten Pandemie waren wahrscheinlich auch die Europäer, die von der durch Y. pestis hervorgerufenen Pest heimgesucht wurden, immunologisch naiv. Die hohe Sterblichkeitsrate damals deutet darauf hin, dass genetische Faktoren, die den Trägern dieser Eigenschaften einen gewissen Schutz vor der Krankheit verliehen, während der Epidemie unter einem starken Selektionsdruck standen. Dies bedeutet: Genetische Schutzfaktoren reicherten sich in der Folge in der Bevölkerung an.
Tatsächlich waren die immer wieder auftretenden Pestepidemien in den folgenden vierhundert Jahren nach dieser zweiten Pandemie in Europa häufig (allerdings auch nicht immer) mit einer geringeren Sterblichkeitsrate verbunden. Auch dies könnte mit einer möglichen genetischen Anpassung des Menschen an Y. pestis zusammenhängen.
Um Genregionen zu identifizieren, in denen die Eigenschaften eines besseren Umgangs mit der tödlichen Pest kodiert sein könnten, charakterisierte das internationale Forscherteam die DNA von Personen, die kurz vor, während oder kurz nach der Epidemie in London und Dänemark gestorben waren. Die Proben aus London stammten von drei, nahe beieinander gelegenen Friedhöfen, die durch moderne Verfahren und durch historische Aufzeichnungen genau auf Zeiträume vor, während und nach der Epidemie datiert waren. Die Proben aus Dänemark waren an fünf Orten gesammelt worden, die ebenfalls archäologisch exakt datiert waren.
Die DNA von Personen, die vor der Pestepidemie lebten, stammte aus den Jahren um 1000 bis 1250 (London) und um 850 bis etwa 1350 (Dänemark). DNA von Personen, die nach der Pest-Epidemie lebten, stammte aus den Jahren 1350 bis 1539 (London), und etwa 1350 bis etwa 1800 (Dänemark). Die DNA, von Personen, die während der Pandemie gestorben waren, wurde aus den Überresten von Menschen isoliert, die alle während eines zweijährigen Fensters von1348 bis1349 gestorben waren und die in London auf dem Pestfriedhof in East Smithfield beigesetzt worden waren.
Insgesamt wurden 516 Proben (318 aus London; 198 aus Dänemark) auf das Vorhandensein menschlicher DNA untersucht. 360 Proben wurden schließlich identifiziert, die ausreichend genetisches Material enthielten, um das Kerngenom genauer untersuchen zu können. Bei den genetischen Untersuchungen konzentrierten sich die Wissenschaftler auf Regionen, in denen für das Immunsystem relevante Gene lokalisiert sind.
Bei der Analyse der genetischen Merkmale fielen den Forschern zahlreiche genetische Varianten auf, deren Häufigkeit offenbar durch den Selektionsdruck der Pest in der Population angereichert worden war. Dies waren Kandidaten, die möglicherweise mit einer verstärkten Überlebenswahrscheinlichkeit assoziiert waren.
Besonders in den Fokus der Wissenschaftler rückten schließlich vier Genloci, bei denen besonders deutlich auffiel, dass sie je nach ihrer jeweiligen Version entweder eine erhöhte Anfälligkeit oder aber eine bessere Widerstandskraft gegenüber dem Pesterreger vermittelt haben könnten.
Dabei handelte es sich zum einen um das Gen für CTLA4, das sehr prominent an der Immunregulation beteiligt ist, indem es verhindert, dass überschießende aktivierende Signale an T-Zellen vermittelt werden. Ein weiterer Kandidat war das Gen für TICAM2, das an der Signalvermittlung von Toll-like-Rezeptoren beteiligt ist. Ein dritter Kandidat ist das NFATC1-Gen. Das von ihm kodierte Protein nimmt eine zentrale Rolle bei der induzierbaren Gentranskription während der Immunantwort ein.
Am prominentesten fiel jedoch ERAP2 auf. Das von diesem Gen kodierte Protein ist eine Zink-Metalloaminopeptidase, die sich im endoplasmatischen Retikulum befindet und die am Zurechtschneiden antigener Epitope für die Präsentation durch Moleküle des Haupthistokompatibilitätskomplexes (MHC) Klasse I beteiligt ist. Personen, die Träger zweier Kopien einer bestimmten Variante von ERAP2 (rs2549794) sind, können vergleichsweise viel dieses Proteins produzieren und daher antigene Peptide sehr effizient generieren.
Dass dies im Falle einer Infektion mit Y. pestis bedeutsam ist, zeigten die Forschenden dadurch, dass Immunzellen, die die aktiven Genkopien von ERAP2 tragen, das Bakterium effektiv eliminieren können. Immunzellen, die keine aktiven Genkopien tragen, kommen mit dem Bakterium deutlich schlechter zurecht.
Dass es sich bei den identifizierten Mutationen tatsächlich um Resultate eines Selektionsereignisses handelt, die nicht aus dem natürlichen genetischen Drift resultieren, zeigten die Forschenden durch den Vergleich mit Mutationen in nichtkodierenden Regionen. Man kann annehmen, dass solche Regionen nicht unter Selektionsdruck geraten, sodass in diesen Regionen Mutationen nur auf Basis eines natürlichen genetischen Drifts entstehen.
Zwar hatte sich der genetische Drift nach der Pestepidemie etwas beschleunigt. Aber 35 der Mutationen in den Immunitätsgenen waren viel schneller aufgetaucht als dies in den neutralen Regionen der Fall war, sodass sie nur das Ergebnis eines natürliches Ausleseprozesses gewesen sein konnten.
Die Forschenden schließen aus ihren Daten, dass für Träger von zwei schützenden Versionen des ERAP2-Gens die Wahrscheinlichkeit, die Pest zu überleben, um 40 Prozent erhöht ist. Dies ist der größte evolutionäre Vorteil, der jemals für eine Mutation beim Menschen gefunden wurde, sagte Professor Dr. Luise Barreiro, einer der Seniorautoren der Publikation, gegenüber der Zeitung »TheNew York Times«.
»Dies ist wirklich erstaunlich«, ergänzt der Evolutionsbiologe Professor Dr. David Enard von der Universität von Arizona, der nicht an der Studie beteiligt war. Enard hält die Studie auch deshalb für so überzeugend, weil die Forschenden sehr sorgfältig einen genetischen Drift für die Kandidatenmutationen ausgeschlossen hätten.
Allerdings ist bekannt, dass die aktive Version des ERAP2-Gens auch das Risiko für Morbus Crohn erhöht. Unter anderem wird Morbus Crohn dadurch verursacht, dass das Immunsystem harmlose Bakterien im Darm angreift und so eine chronische Entzündung induziert. Zudem gibt es Hinweise, dass homozygote Träger des aktiven ERAP2-Gens auch ein erhöhtes Risiko für ankylosierende Spondylitis (Morbus Bechterew) und Präeklampsie besitzen. Im Übrigen sind auch die anderen Mutationen, die Gruppe als Folge einer natürlichen Selektion identifizierten, ebenfalls mit Immunkrankheiten assoziiert.
In ihrer Publikation schreiben die Forschenden: »Schließlich zeigen wir, dass Schutzvarianten sich mit Allelen überschneiden, die heute mit einer erhöhten Anfälligkeit für Autoimmunerkrankungen in Verbindung gebracht werden, und liefern empirische Beweise für die Rolle, die vergangene Pandemien bei der Gestaltung der heutigen Anfälligkeit für Krankheiten gespielt haben.«
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