»Die Fehlerrate möglichst auf null bringen« |
Laura Rudolph |
07.10.2024 13:30 Uhr |
Mit einer steigenden Anzahl einzunehmender Medikamenten nimmt auch die Gefahr für Medikationsfehler zu. / © Adobe Stock/taylon
Etwa 5 Prozent aller ungeplanten Krankenhauseinweisungen gehen auf unerwünschte Arzneimittelwirkungen zurück, die Hälfte davon auf Medikationsfehler – die prinzipiell vermeidbar gewesen wären und im schlimmsten Fall Menschenleben kosten. Ein wichtiges Entwicklungsfeld in der Pharmazie ist deshalb die AMTS, die alle Maßnahmen zur Optimierung des Medikationsprozesses umfasst.
»Pharmakon« erscheint sechsmal jährlich. Jede Ausgabe hat einen inhaltlichen Schwerpunkt, der aus unterschiedlichen Perspektiven aufbereitet wird. / © Avoxa
Über aktuelle und zukünftige Möglichkeiten, die AMTS in der ambulanten und stationären Versorgung zu verbessern, referierten Dr. Ulrich Jaehde, DPhG-Präsident und Professor für Klinische Pharmazie an der Universität Bonn, und Professor Dr. Hanna Seidling vom Universitätsklinikum Heidelberg beim Webinar »Arzneimitteltherapiesicherheit – analog und digital«, das in Kooperation der DPhG mit Pharma4u entstanden ist. Das Expertenduo ist zudem der Gastherausgeber der aktuellen Ausgabe der DPhG-Mitgliederzeitschrift »Pharmakon«, die sich ebenfalls Themen rund um AMTS widmet.
Ein Medikationsfehler sei nicht dasselbe wie eine unerwünschte Arzneimittelwirkung (UAW), könne aber in eine solche münden, stellte Jaehde zu Beginn klar. Da die Medikation eines Patienten ein komplexer, mehrstufiger Prozess ist, der Ärzte, Apotheker und Patienten einbezieht, birgt jeder Schritt und jede Schnittstelle potenzielle Fehlerquellen. Dies fängt bei der Therapieentscheidung an und geht über die Verordnung und Abgabe bis hin zur Einnahme und dem Monitoring. »Fehler sind aber grundsätzlich vermeidbar«, so der Apotheker. Das Ziel der AMTS sei es, die Fehlerrate möglichst auf null zu bringen.
Ein zentrales Problem der Arzneimitteltherapie besteht darin, dass Arzt, Apotheker und Patient häufig nicht auf demselben Wissensstand sind, was die Arzneimittelanwendung angeht. Veraltete Medikationspläne und fehlende Informationen führen immer wieder zu arzneimittelbezogenen Problemen (ABP). Hier könnte die elektronische Patientenakte (ePA), die ab 2025 für alle gesetzlich Versicherten in Deutschland eingeführt werden soll, Abhilfe schaffen. Sie bündelt alle relevanten Gesundheitsdaten eines Patienten an einem zentralen Ort und ermöglicht so einen schnellen Überblick über die medizinische Historie.
»Der digital gestützte Medikationsprozess wird der erste Anwendungsfall in der ePA für alle sein«, erklärte Seidling. Dies sei eine große Errungenschaft, die »hoffentlich sehr vielen Patienten einen Nutzen bringen wird«. Möglichst alle Arzneimittel, die ein Patient einnimmt, sollen dabei zentral und digital erfasst werden. Ärzte können die Medikation so besser nachvollziehen und Wechselwirkungen oder Doppelverordnungen vermeiden.
Um Medikationsfehler zu entlarven, dient bereits heute die Medikationsanalyse, die Apotheker seit 2022 als pharmazeutische Dienstleistung abrechnen können. Für Patienten bedeutet dies eine niederschwellige Möglichkeit, ihre Medikation kostenlos überprüfen zu lassen. »Es ist jedoch sehr schade, dass viel zu wenige Apotheken diese Dienstleistung anbieten«, bedauert Jaehde. »Sie haben hier ein Instrument, das vergütet wird, mit dem Sie Patienten helfen können und mit dem Sie auch Ihre Apotheke profilieren können. Nutzen Sie es.«
Dass interprofessionelles Medikationsmanagement sogar Leben retten kann, zeigte auch eine Auswertung des Modellprojekts Arzneimittelinitiative Sachsen-Thüringen (ARMIN), das von 2014 bis 2022 durchgeführt wurde. Das Projekt zielte darauf ab, die Arzneimittelversorgung von chronisch kranken, multimorbiden Patienten mit Polymedikation zu verbessern.
ARMIN ermöglichte eine strukturierte Medikationsanalyse, förderte die Zusammenarbeit von Arzt und Apotheker und letztlich die korrekte Einnahme von Medikamenten. Der Erfolg war messbar: Eine wissenschaftliche Evaluation ergab, dass das Projekt die Mortalität der teilnehmenden Patienten signifikant senkte. Während in der Kontrollgruppe 12,9 Prozent der Patienten verstarben, waren es in der ARMIN-Gruppe nur 9,3 Prozent. Damit nahm die relative Mortalität um 18 Prozent ab.
Neben Interprofessionalität sind Transparenz und offene Fehlerkultur weitere wichtige Schlagworte im Zusammenhang mit AMTS. Jaehde stellte das Berichts- und Lernsystem CIRSmedical.de (CIRS steht für Critical Incident Reporting-System) vor, das sich an alle im Gesundheitswesen tätigen Personen richtet, wie Ärzte, Apotheker und Pflegekräfte. Auf dieser Plattform können sie anonym Fehler, (Beinahe-)Schäden sowie kritische oder unerwünschte Ereignisse in der Patientenversorgung melden.
Davon können andere lernen und Fehler vermeiden: Durch das Lesen und Kommentieren der Fallberichte können neue Lösungsstrategien entwickelt und Sicherheitsmaßnahmen abgeleitet werden, was letztlich die Patientensicherheit erhöht. Die Plattform verfügt zudem über eine Suchfunktion, die es ermöglicht, gezielt nach Fehlerquellen zu suchen, beispielsweise im Zusammenhang mit bestimmten Wirkstoffen.
Auch Telepharmazie könne die AMTS erhöhen, ist sich Seidling sicher – allerdings nur, wenn sie »Angebote möglich macht, die sonst nicht leistbar wären«, und nicht etwa bestehende Strukturen wie die persönliche Beratung in der Apotheke ersetzt (Stichwort Apothekenreform). Beispielsweise kann eine telepharmazeutische Beratung für bewegungseingeschränkte Patienten, die den Weg in die Apotheke nicht geschafft hätten, eine große Hilfe sein. Zudem gebe es in Krankenhäusern Projekte, in denen beispielsweise spezialisierte Apotheker Ärzte im Rahmen einer Televisite beraten.
Auch bei elektiven Patientengesprächen, die im Vorfeld einer geplanten Krankenhauseinweisung stattfinden, habe Seidling gute Erfahrungen mit einer Telekonsultation gemacht. Im häuslichen Umfeld seien Patienten oft entspannter und konzentrierter, sodass die Erfassung ihrer Arzneimittel eher fehlerfrei ablaufe als im Krankenhaus.
Insgesamt wurde im Webinar deutlich, dass AMTS-fördernde Ansätze sehr unterschiedlich aussehen können und stark vom Patienten sowie vom Behandlungsumfeld abhängen. Im Zuge der zunehmenden Digitalisierung im Gesundheitswesen wird sich die Vielfalt der AMTS-Maßnahmen voraussichtlich weiter erhöhen.