Die drei großen D der Alterspsychiatrie |
Juliane Brüggen |
20.01.2023 11:00 Uhr |
Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind ein wichtiges Thema, wenn ältere Menschen mit Psychopharmaka behandelt werden: »Praktisch alle Psychopharmaka erhöhen das Sturzrisiko«, erklärte Dr. Otto Dietmaier. / Foto: PZ/Alois Müller
Mehr als 50 Prozent der Bewohner von Altenheimen erhalten Psychopharmaka, etwa 60 Prozent der Pflegebedürftigen eine Polymedikation. »Der Fokus muss auf diesen Patienten liegen«, betonte der ehemalige leitende Pharmaziedirektor am Klinikum am Weissenhof, Zentrum für Psychiatrie, Weinsberg. Denn altersbedingte Veränderungen der Pharmakokinetik führten dazu, dass Psychopharmaka im Alter bei gleicher Dosierung deutlich stärkere Effekte und deutlich mehr Nebenwirkungen hätten als bei jüngeren Patienten. Wenn dann Gebrechlichkeit (Frailty-Syndrom), Exsikkose und Gewichtsverlust hinzukämen, fehlten zusätzlich wichtige Kompensationsmechanismen. Die vermehrt auftretenden Nebenwirkungen beeinträchtigten dann oftmals die Compliance.
Psychopharmaka kommen häufig bei den »drei großen D« der Alterspsychiatrie zum Einsatz: Demenz, Depression und Delir. Demenz – die häufigste psychiatrische Diagnose im Alter – wird laut Dietmaier in 90 Prozent der Fälle von nicht kognitiven Störungen begleitet, die sich unter anderem in produktiven Verhaltensstörungen wie Hyperaktivität (Aggressivität, Schreien) und psychotischen Symptomen (Wahn, Halluzinationen) äußern. Hier können Antipsychotika wie Risperidon, Melperon oder Pipamperon Abhilfe schaffen.
Noch häufiger als produktive zeigten Demenzpatienten aber reaktive Verhaltensstörungen wie Apathie oder Depression, die mit selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) oder Mirtazapin behandelt werden. »Die Depression im Alter ist ein ganz wichtiges Thema«, machte Dietmaier deutlich. Sehr häufig trete sie zusammen mit Alzheimer, Parkinson, Schlaganfall, Schmerzsyndromen oder Herzinfarkt auf und verschlechtere die Prognose. Ältere Patienten mit einer Depression hätten ein erhöhtes Risiko, an einer dieser Erkrankungen zu versterben.
Welche Psychopharmaka geeignet sind, müsse individuell entschieden werden. »Ganz wichtig: Das kalendarische und das biologische Alter können sich deutlich unterscheiden«, betonte der Apotheker. Als Informationsquelle nannte er die aktualisierte Priscus-Liste 2.0. Komplett vermieden werden sollten Benzodiazepine und möglichst auch Stoffe, die anticholinerge Effekte oder extrapyramidale motorische Störungen hervorrufen.
»In der Apotheke sollte eine gewisse Kenntnis da sein, welche durchschnittlichen Empfehlungen der Fachgesellschaften es gibt«, sagte Dietmaier. Dies gelte auch bezüglich Wirkstoffkombinationen und Therapiedauer. Ein spezielles Kapitel zur »apothekerischen Versorgung« gibt es in der Nationalen Versorgungsleitlinie »Unipolare Depression«. Hier wird der Apotheke unter anderem die Adhärenzförderung als Aufgabe zugeordnet.
Dazu gab es Tipps von Dietmaier: »Es ist wichtig zu wissen, dass viele Ängste und Vorurteile auch im Umfeld der Patienten und bei den Angehörigen existieren.« Die Apotheke könne hier eingreifen und erläutern, zum Beispiel bei der Angst vor Abhängigkeit. Denn: »Die meisten Psychopharmaka machen nicht abhängig.« Der beste Beweis sei, dass Patienten die Medikamente oft selbst absetzten. Als Gegenbeispiel nannte er Benzodiazepine, bei denen das eigenmächtige Absetzen oft scheitert.
Auch Persönlichkeitsveränderungen infolge der Pharmakotherapie stehen oftmals im Raum. Dietmaier empfahl, nachzufragen: »Wie war die Person denn vorher? Ist es nicht auch die Krankheit, die einen Menschen verändert?« Ziel müsse sein, das Positive in der Therapie zu sehen. Erst nach vielen Jahren der Einnahme könne es tatsächlich zu Veränderungen kommen.
Außerdem sei es sinnvoll, die Wirkmechanismen zu erläutern, auf Wechselwirkungen hinzuweisen – »immer differenziert« – und mögliche Nebenwirkungen nicht zu verharmlosen. »Denken Sie auch an Verordnungskaskaden, die gerade bei alten Menschen sehr häufig sind«, betonte Dietmaier. Die Behandlungsdauer sollte, wenn möglich, von Beginn an klar sein. Nicht zuletzt gelte beim An- und Absetzen: möglichst langsam vorgehen und nicht abrupt aufhören.