Deutliche Zunahme, aber keine Epidemie |
Brigitte M. Gensthaler |
24.09.2025 09:00 Uhr |
Fieber und multiple Entzündungsreaktionen sind typisch für autoinflammatorische Erkrankungen. / © Getty Images/Westend61
Als autoinflammatorische Erkrankung werden Entzündungsprozesse beschrieben, die unabhängig von B- und T-Zellen ablaufen. Vielmehr führt eine Fehlregulation des angeborenen Immunsystems zu überschießenden fehlgesteuerten Entzündungsreaktionen des Körpers.
»Das ist eine vergleichsweise neue, aber zunehmend wichtige Klasse von Erkrankungsbildern, die viele Organe und Systeme betrifft. Die Erkrankungen nehmen nicht sprunghaft zu, aber wir erkennen immer mehr davon«, erklärte Dr. Martin Krusche von der Sektion Rheumatologie und entzündliche Systemerkrankungen, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE), kürzlich bei einer Online-Pressekonferenz der Deutschen Gesellschaft für Rheumatologie und Klinische Immunologie (DGRh).
Der Begriff Autoinflammation wurde erstmals 1999 von Daniel L. Kastner am National Institute of Health (NIH, USA) geprägt. Ursprünglich beschrieb man damit vor allem monogenetische erbliche Fiebersyndrome, zum Beispiel das familiäre Mittelmeerfieber. Typisch sind multiple Entzündungsreaktionen, die meist verschiedene Organsysteme gleichzeitig erfassen, zum Beispiel Haut, Nervensystem, Gelenke oder innere Organe.
Inzwischen sei das Erkrankungsspektrum jedoch deutlich breiter und umfasse auch polygenetische und multifaktorielle Erkrankungen wie Morbus Still oder Gicht, berichtete der Rheumatologe. Dank molekularbiologischer Verbesserungen in der Diagnostik und des Booms von genetischen Testungen seien inzwischen mehr als 50 Mutationen bekannt, die zu eigenständigen autoinflammatorischen Krankheitsbildern führen. »Und die Zahl wächst stetig weiter.« Das habe mehrere Gründe.
Neben angeborenen Mutationen seien mittlerweile auch somatische, also erworbene Veränderungen bekannt. Als Beispiel nannte Krusche das 2020 beschriebene VEXAS-Syndrom (DOI: 10.1056/NEJMoa2026834). Das Kürzel steht für Vakuolen, E1-Enzym, X-chromosomal, autoinflammatorisch, somatisch. Es wird durch eine Genmutation auf dem X-Chromosom ausgelöst, betrifft überwiegend Männer über 50 Jahre und führt zu Blutbildveränderungen sowie schweren systemischen Entzündungen in vielen Organen.
Ebenfalls neue Erkenntnisse: »Autoinflammatorische Erkrankungen können grundsätzlich in jedem Lebensalter auftreten – vom Neugeborenen bis ins hohe Alter«, so Krusche. Und sie seien auch an häufigen Volkskrankheiten beteiligt, zum Beispiel an der Entstehung von Atherosklerose und möglicherweise auch an einer Neurodegeneration wie bei der Alzheimer-Erkrankung.
Die neuen Erkenntnisse zur Pathologie eröffnen auch neue Therapieansätze. »Heute rücken zielgerichtete antiinflammatorische Therapien aus der Rheumatologie in den Fokus, etwa die Interleukin-1-Blockade oder die Hemmung des NLRP3-Inflammasoms«, berichtete der Arzt.
Das NLRP3-Inflammasom ist ein Multiprotein-Komplex im Zytosol, der durch zahlreiche Faktoren aktiviert wird und ein wichtiger Teil der angeborenen Immunabwehr ist. Er scheint eine Schlüsselrolle beim Fortschreiten einer Alzheimer-Erkrankung zu spielen, heißt es in einer Publikation im Fachjournal »Neuropharmacology« 2024 (DOI: 10.1016/j.neuropharm.2024.109941).
In den USA wird das NLRP3-Inflammasom bereits als Target genutzt. Colchicin könne dort (Handelsname Lodoco®: Low Dose Colchicine) neben Gicht und Perikarditis auch zur Prävention atherosklerotischer Herz-Kreislauf-Erkrankungen eingesetzt werden, hatte Professor Dr. Manfred Schubert-Zsilavecz beim Pharmacon Meran 2024 berichtet. Der Naturstoff sei – neben seiner antimitotischen und antiinflammatorischen Wirkung – in der Lage, die Bildung und Aktivierung des Multiprotein-NLRP3-Komplexes zu blockieren, der als zentrale Schaltstelle für zahlreiche autoinflammatorische Prozesse gilt.
»Die steigende Zahl diagnostizierter Fälle von autoinflammatorischen Erkrankungen darf nicht vorschnell als Epidemie missverstanden werden, sondern spiegelt in erster Linie den wissenschaftlichen Fortschritt und die verbesserte diagnostische Sensitivität wider«, resümierte der Arzt. »Wir kennen und erkennen heute deutlich mehr Erkrankungen als noch vor 20 Jahren.«