Der Arzneischrank unter unseren Füßen |
Annette Rößler |
11.08.2023 16:30 Uhr |
Die Biodiversität ist unterirdisch größer als oberhalb des Erdbodens. Dem Schutz der Böden sollte daher aus Sicht von Forschern eine höhere Priorität eingeräumt werden. / Foto: Agroscope/Gabriela Brändle
Wie viele Arten leben im Boden? Diese Frage mutet simpel an, ist aber in Wirklichkeit äußerst schwierig zu beantworten, denn wie wollte man die Lebewesen im Untergrund in ihrer Gesamtheit genau erfassen? Letztlich kann es dazu nur Schätzungen geben und eine solche – erstaunlicherweise die erste umfassende ihrer Art – hat jetzt ein Team um Mark Anthony von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Zürich vorgenommen. Die Ergebnisse sind im Fachjournal »PNAS« publiziert.
Die Forscher definierten bodenlebende Arten als solche, die im oder direkt auf dem Erdboden leben (zum Beispiel auch Insekten, die sich ihre Nahrung direkt auf dem Boden suchen), die einen Teil ihres Entwicklungszyklus im Boden verbringen (zum Beispiel Arten, die sich im Boden verpuppen, oder Pflanzen mit Wurzeln im Erdreich) oder die etwa als Parasiten bodenlebende Arten befallen. Viren und Phagen blieben außen vor.
Sie werteten Fachartikel sowie weitere Datensätze aus und formulierten anhand dessen für verschiedene biologische Stämme, Klassen und Familien Annahmen dazu, wie groß der jeweilige Anteil an Arten ist, die im Boden leben. Beispielsweise gehen sie davon aus, dass von den Gliederfüßern (Arthropoda), zu denen schätzungsweise 7 × 106 Arten zählen, insgesamt 30,4 Prozent im Boden leben, wobei dieser Anteil bei bestimmten Subgruppen wie Termiten (Isoptera) oder Doppelfüßern (Diplopoda) deutlich höher liegt. Bei Säugetieren und Weichtieren (Mammalia und Mollusca) dagegen, die mehrheitlich an das Leben an Land oder im Wasser angepasst sind, ist der Anteil nur sehr gering.
Alles in allem kommen sie zu folgenden Kernaussagen:
Ein Springschwanz (Dicyrtomina minuta) auf Schneckeneiern. Diese Tiere tragen im Boden zur Humusbildung bei und werden vom Duftstoff Geosmin angelockt. / Foto: WSL/Andy Murray
Die Autoren verweisen darauf, dass die Datenlage zum Artenreichtum im Boden große Lücken aufweist, insbesondere im globalen Süden. Daher sind die Spannweiten ihrer Schätzungen teilweise sehr groß. Das betrifft etwa die Springschwänze (Collembola), eine urtümliche Klasse der Sechsfüßer, die nicht zu den Insekten zählt und die im Boden zur Humusbildung beiträgt. Aber auch bei den Bakterien liegen die obere und die untere Schätzgrenze mit 88,8 beziehungsweise 22,2 Prozent weit entfernt vom Mittelwert von 43 Prozent im Boden lebender Arten, mit dem die Forscher schließlich rechneten.
Laut einer Pressemitteilung der WSL wappnen sich die Autoren daher bereits für einige Kritik an ihren Methoden und Schlussfolgerungen. »Unsere Arbeit ist ein erster, aber wichtiger Versuch abzuschätzen, welcher Anteil der globalen Artenvielfalt im Boden lebt«, sagt Anthony dazu. Das Ziel sei es, die Basis für dringend notwendige Entscheidungen zum Schutz der Böden und ihrer Lebewesen weltweit zu liefern. Die Vielfalt im Erdreich sei groß, aber die Böden stünden auch »enorm unter Druck, sei es durch landwirtschaftliche Intensivierung, den Klimawandel, invasive Arten und vieles mehr.«