Chinas Führung gesteht Defizite ein |
Die aktuelle Coronavirus-Epidemie nahm ihren Ausgang in Wuhan. Mittlerweile sind rund zwei Dutzend Länder offiziell betroffen. Das wahre Ausmaß könnte noch größer sein. / Foto: Getty Images/Veronika Dvořáková
Über Nacht stieg die Zahl der bestätigten Infektionen und Todesfälle durch das Coronavirus 2019-nCoV erneut sprunghaft. Wie die chinesische Gesundheitsbehörde mitteilte, gab es bis Dienstag 20.438 bestätigte Erkrankungen – 3.225 neue Fälle im Vergleich zum Vortrag. Die Zahl der Todesopfer stieg demnach um 64 auf 425. Es war erneut der bisher stärkste Anstieg der Infektionen mit dem neuartigen Coronavirus und der Todesfälle innerhalb eines Tages. In Hongkong gab es den zweiten Toten außerhalb Festland-Chinas. Zuvor war auch ein Patient auf den Philippinen gestorben. Weltweit sind rund 200 Infektionen in rund zwei Dutzend Ländern bestätigt.
Die Sterblichkeitsrate der Lungenkrankheit in China liegt aktuellen Angaben zufolge im Schnitt bei 2,1 Prozent. Das bedeutet, dass rund jeder 50. nachweislich Erkrankte an dem Virus stirbt. In der schwer betroffenen Metropole Wuhan erreicht die Mortalität allerdings 4,9 Prozent, wie Jiao Yahui von der Gesundheitskommission berichtete. In der gesamten Provinz Hubei, dessen Hauptstadt Wuhan ist, sind es demnach 3,1 Prozent.
Am Freitag hatten Forscher um Professor Gabriel Leung von der University of Hong Kong im Fachjournal »The Lancet« vermutet, dass das wahre Ausmaß der Epidemie um ein Vielfaches größer sein könnte. »Nicht jeder, der sich mit 2019-nCoV infiziert, hat vermutlich medizinische Hilfe in Anspruch genommen«, so Leung. Sie schätzen, dass jeder Infizierte zwei bis drei weitere Personen angesteckt hat. Ihren Berechnungen zufolge könnten sich bis zum 25. Januar bis zu 75.800 Menschen allein in Wuhan angesteckt haben. Ein weiterer Grund für die Diskrepanzen der Modellrechnung und den offiziellen Zahlen könnten in der bis zu 14-tägigen Inkubationszeit liegen – dem Zeitpunkt der Ansteckung bis erste Symptome auftreten. Im Gegensatz zu SARS sind bei 2019-nCoV auch symptomlose Infizierte bereits ansteckend. Die Hongkonger Forscher gehen davon aus, das mit ein bis zwei Wochen Verzögerung auch größere Epidemien in anderen chinesischen Großstädten auftreten werden. Ein Ende der Epidemie ist noch nicht in Sicht. Chinesische Experten schätzten am Montag, dass der Ausbruch ihren Höhepunkt in 10 bis 14 Tagen erreichen könnte. Dafür müssten aber vorbeugende Maßnahmen verstärkt werden.
An Medikamenten und Impfstoffen gegen das neue Coronavirus wird weltweit fieberhaft gearbeitet. Die WHO hat am Freitag die internationale Notlage erklärt. Wissenschaftler sind nun aufgerufen, sich auf das neue Coronavirus 2019-nCoV zu konzentrieren, entsprechende Anfragen werden von den regulierenden Behörden mit Priorität behandelt. Nach Einschätzung vom Präsidenten des Paul-Ehrlich-Instituts (PEI), Professor Dr. Klaus Cichutek, kommt jedweder Impfstoff nicht mehr rechtzeitig, um die aktuelle Pandemie einzudämmen. Alle Impfstoffkonzepte hätten ihre Vor- und Nachteile. »Wir werden sehen, welche die besten und schnellsten sind«, so Cichutek im Interview mit dem Berliner »Tagesspiegel«. Einen konkreten Zeitpunkt, wann die ersten Phase-I-Studien starten könnten, konnte er noch nicht nennen.
Die chinesische Führung hat derweil erstmals «Unzulänglichkeiten und Defizite» in der Reaktion auf den Ausbruch der Lungenkrankheit eingeräumt. Nach einem Treffen unter Vorsitz von Staats- und Parteichef Xi Jinping ließ das Politbüro nach Angaben des Staatsfernsehens vom Dienstag mitteilen: «Wir müssen die Erfahrungen zusammenfassen und Lehren daraus ziehen.» Das nationale Krisenmanagement müsse verbessert werden. Das Gesundheitssystem solle untersucht und «Mängel» müssten beseitigt werden.
Xi Jinping forderte «rasche und entschlossene» Maßnahmen zur Eindämmung der Krankheit, wie die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua berichtete. Er rief zu einer «strikten Durchsetzung» von Anordnungen und Verboten auf. Im Kampf gegen die Epidemie gehe es nicht nur um das Leben und die Gesundheit der Menschen, sondern auch um die wirtschaftliche und soziale Stabilität. Die Versorgung mit medizinischem Schutzmaterial müsse gesichert und die Infektions- und Sterblichkeitsrate gesenkt werden, wurde auf dem Parteitreffen weiter betont. Parteikomitees und Regierungen auf allen Ebenen wurden aufgerufen, die Epidemie unter Kontrolle zu bringen, aber auch «die Ziele der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung» in diesem Jahr zu erreichen. Der Ausbruch sei ein «wichtiger Test für Chinas System und die Fähigkeit zur Regierungsführung».
Bei dem Treffen wurde auch eine entschlossene Umsetzung des gerade erlassenen Verbots für den Handel mit wilden Tieren gefordert. Es müsse entschieden gegen illegale Märkte mit Wildtieren vorgegangen werden, so das Politbüro. Die Behörden vermuten, dass das neuartige Coronavirus von Wildtieren von einem Markt in Wuhan ausgegangen war. Die ersten Infektionen traten bei Besuchern des Marktes auf.
Vertreter der G7-Staaten haben sich nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums am Montag über Maßnahmen gegen die Coronavirus-Epidemie verständigt. «Die Minister verabredeten ein so weit als möglich abgestimmtes Vorgehen bei den Reisebestimmungen und Vorsichtsmaßnahmen, bei der Erforschung des neuen Virus und bei der Zusammenarbeit mit der WHO, der EU und China», hieß es in der Mitteilung des Ministeriums. «Eine angemessene Reaktion auf das Virus kann nur international und europäisch abgestimmt erfolgen», sagte Gesundheitsminister Jens Spahn laut Mitteilung. Am Dienstag wollte sich der CDU-Politiker demnach mit seinen Amtskollegen aus Großbritannien und Frankreich treffen.
In Deutschland sind bislang zwölf Fälle von Infizierten bekannt. Zehn stehen in Zusammenhang mit dem bayerischen Autozulieferer Webasto, darunter sind zwei Kinder eines Mitarbeiters. Bei Webasto war eine infizierte Kollegin aus China zu Gast gewesen, die ihre Erkrankung erst auf dem Rückflug bemerkt hatte. Außerdem war das Virus bei zwei Passagieren festgestellt worden, die am Wochenende mit einem Bundeswehrflugzeug aus Wuhan zurückgeholt worden waren.
Das Virus SARS-CoV-2 hat unsere Welt verändert. Seit Ende 2019 verbreitet sich der Erreger von Covid-19 und stellt die Wissenschaft vor enorme Herausforderungen. Sie hat sie angenommen und rasch Tests und Impfungen, auch für Kinder, entwickelt. Eine Übersicht über unsere Berichterstattung finden Sie auf der Themenseite Coronavirus.