Bürgerrat wünscht einfaches Siegel und andere Besteuerung |
Daniela Hüttemann |
15.01.2024 16:00 Uhr |
Gesunde Grundnahrungsmittel wie Obst und Gemüse aus Bioproduktion sollten aus Sicht des Bürgerrats nicht besteuert werden. / Foto: Adobe Stock/Fxquadro
Bürgerräte sollen den Querschnitt der Bevölkerung abbilden. Sie sollen offen über für die Gesellschaft wichtige Themen diskutieren, um von außen unbeeinflusst Empfehlungen für die Politik zu erarbeiten. Der bislang einzige Bürgerrat mit dem Namen »Ernährung im Wandel« hat nun sein erstes Bürgergutachten erstellt und und am gestrigen Sonntag dem Bundestag übergeben, der sich nun damit beschäftigen soll.
20.000 Bürgerinnen und Bürger ab 16 Jahren wurden per Zufall ausgesucht und angeschrieben. Rund 2200 dieser Personen wollten mitmachen. Bei der Registrierung für die zweite Stufe des Losverfahrens wurden zum Beispiel das Alter, der Bildungshintergrund, die Einstellung zum jeweiligen Thema des Bürgerrats, zu Ernährungsgewohnheiten usw. abgefragt. Abschließend schlug ein Algorithmus mehrere mögliche Bürgerräte vor, die möglichst einen Querschnitt der Allgemeinbevölkerung abbilden sollen, zum Beispiel den Anteil der Fleischesser, Vegetarier und Veganer. Auf dieser Basis wurde dann per Los der Bürgerrat »Ernährung im Wandel« am 21. Juli des letzten Jahres bestimmt.
In mehreren Sitzungen erarbeiteten die 160 Bürgerinnen und Bürger nun neun konkrete Handlungsempfehlungen. Am höchsten priorisiert wurde ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder als Schlüssel für gleiche Bildungschancen und Gesundheit. Gleich an zweiter Stelle kommt der Wunsch nach einem verpflichtenden staatlichen Label, das bewusstes Einkaufen leichter machen soll. »Man soll in drei Sekunden erkennen, ob das Lebensmittel unbedenklich ist«, heißt es in der näheren Erläuterung. Das Label soll Klima, Tierwohl und Gesundheit berücksichtigen und wissenschaftlich fundiert sein. Dem stimmten 88,5 Prozent der Bürgerrats-Beteiligten zu.
An dritter Stelle kommt die Empfehlung, Supermärkte und andere Lebensmittelgeschäfte ab einer Größe von 400 Quadratmetern Verkaufsfläche zu verpflichten, noch genießbare Lebensmittel, die sie sonst entsorgen würden, an gemeinnützige Organisationen beziehungsweise für gemeinnützige Zwecke weiterzugeben (Zustimmung 84,1 Prozent).
Der Bürgerrat spricht sich auch auf eine andere Besteuerung von Lebensmitteln als bisher aus. Steuerfrei sollten demnach unverarbeitetes Obst und Gemüse aus der EU in Bio-Qualität, tiefgefrorenes Obst und Gemüse in Bio-Qualität, alles Obst und Gemüse der Klasse 2 (entspricht nicht der optischen Norm), Hülsenfrüchte, Nüsse, Vollkorngetreide sowie Mineral- und Tafelwasser sein.
Der ermäßigte Steuersatz von 7 Prozent soll weiter für Grundnahrungsmittel gelten, wobei Zucker, egal aus welcher Ursprungs- oder Herstellungsform, nicht mehr als Grundnahrungsmittel klassifiziert und deshalb mit 19 Prozent Mehrwehrsteuer belegt werden soll.
Zur Verbesserung des Tierwohls soll auch Fleisch aus der Haltungsform 1 und 2 mit 19 Prozent besteuert werden, während Fleisch aus Haltungsform 3, 4 und Bio sowie Fleischersatzprodukte nur mit 7 Prozent besteuert werden sollen (Zustimmung 72,6 Prozent).
Weitere Empfehlungen betreffen eine Verbrauchsabgabe zur Förderung des Tierwohls und eine transparentere Darstellung der Herkunft und Lebensbedingungen von Tieren. Abgelehnt wurde dagegen eine gestaffelte Herstellerabgabe auf alle zuckerhaltigen sowie Süßungsmittel-haltigen Getränke.
Energy-Drinks dagegen sollten erst ab mindestens 16 Jahren verkauft werden dürfen. Zudem sollten sie Warnhinweise tragen, die auf gesundheitliche Risiken der Inhaltsstoffe verweisen.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas sagte, mit diesen Empfehlungen sollten sich nun alle Fraktionen im Deutschen Bundestag intensiv beschäftigen. Professor Dr. Melanie Speck, Ökotrophologin an der Fakultät Agrarwissenschaften und Landschaftsarchitektur der Hochschule Osnabrück, sagte stellvertretend für den wissenschaftlichen Beirat: »Das Experiment Bürgerrat ist gelungen. Der Prozess war so offen, dass der Querschnitt der Bevölkerung erfolgreich abgebildet wurde. Die Gespräche haben im Zeichen der Verständigung und nicht der Polarisierung stattgefunden.«
Die Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK) begrüßte die Besteuerungsvorschläge des Bürgerrats und forderte die Bundesregierung auf, aktiv zu werden, damit es nicht bei einem »Papiertiger« bleibt. Wenig überraschend reagierte der Lebensmittelverband ablehnend bis polemisch mit Begriffen wie »ernährungspolitische Mottenkiste« und »Realitätslimbo«. Der Verband stellte das gesamte Konzept des Bürgerrats infrage und sprach von »scheindemokratischen Prozessen«.