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Diabetes zurückdrängen

Blutzuckerkontrolle ohne Arzneimittel

Remission ist möglich: Diabetes lässt sich gerade in frühen Phasen der Erkrankung durch Lebensstiländerungen noch in vielen Fällen zurückdrängen. Mehr Bewegung und die richtige Ernährung sind hier entscheidend – und Disziplin.
Christina Hohmann-Jeddi
05.05.2023  15:00 Uhr

»Rund ein Drittel der Menschen im Rentenalter ist Typ-2-Diabetiker«, sagte Dr. Johannes Scholl, Internist und Buchautor aus Rüdesheim am Rhein, auf dem Internistenkongress am 24. April in Wiesbaden. »Das nehmen wir einfach so schicksalhaft hin.« Dabei könne man mit dem richtigen Lebensstil die Erkrankung zurückdrängen.

Wer mit einem Prädiabetes oder einer schweren Insulinresistenz auffalle, würde häufig aber nicht gefragt, ob er die Erkrankung lieber bekämpfen oder später einmal medikamentös behandeln wolle. Wie gut aber eine Remission gerade in frühen Phasen der Erkrankung funktioniert, zeige eine Studie aus Großbritannien, so Scholl. In der Acht-Jahres-Beobachtung hatte der Allgemeinmediziner Dr. David Unwin den 465 Typ-2-Diabetikern beziehungsweise Patienten mit Prädiabetes seiner Praxis in Southport angeboten, eine Low-Carb-Diät zu machen. 39 Prozent entschieden sich dafür, diese Ernährungsform mit reduziertem Kohlenhydratanteil für mindestens 23 Monate einzuhalten, wie eine Publikation im Journal »BMJ Nutrition, Prevention & Health« zeigt.

Nach durchschnittlich 33 Monaten hatten die Patienten in der Low-Carb-Gruppe im Mittel etwa 10 kg an Gewicht verloren. Ihr HbA1c-Wert fiel von fast 8 auf 6,5 Prozent. Insgesamt erreichten 51 Prozent der Kohorte eine Diabetesremission. Bei den Typ-2-Diabetikern mit einer Erkrankungsdauer von unter einem Jahr lag die Rate bei 77 Prozent. Bei den Patienten mit einer Erkrankungsdauer von mehr als 15 Jahren ließ sich der Diabetes noch bei 20 Prozent zurückdrängen. Zudem verbesserten sich in der gesamten Kohorte die Blutfettwerte, der Blutdruckwert sank und insgesamt konnten Antidiabetika-Kosten zu 50 Prozent eingespart werden.

Wie effektiv sich Diabetes in frühen Phasen mithilfe von Low-Carb zurückdrängen lasse, komme bei den Patienten häufig nicht an, kritisierte der Gründer der Praxiskette Prevention First.

Therapie nach Diabetes-Subgruppe

Wie genau muss der Lebensstil umgestellt werden, um den Typ-2-Diabetes (T2D) in Remission zu bringen? »Das hängt vom Diabetes-Subtyp ab«, sagte Scholl. Vor fünf Jahren beschrieben Forschende um Professor Dr. Emma Ahlqvist von der Universität Lund in Schweden fünf Subgruppen von Typ-2-Diabetes, die sich in ihrer Pathologie und ihren Eigenschaften unterscheiden, berichtete der Mediziner. Der schwedischen Einteilung zufolge mache das erste Cluster etwa 6 bis 7 Prozent der Typ-2-Diabetiker aus, die einen Late onset Autoimmune Diabetes of the Adult (LADA) aufweisen. Da es sich um eine Autoimmunerkrankung handele, sei bei diesen Patienten Remission kein Ziel, Lebensstiländerungen könnten sich aber positiv auswirken.

»Der Cluster 2 macht etwa 15 bis 20 Prozent der Typ-2-Diabetiker aus«, sagte Scholl. Bei diesen Patienten liege eine angeborene Störung der Insulinsekretion vor. Sie seien tendenziell schlanker und hätten bei der Manifestation schon hohe HbA1c-Werte. Für diese Patienten sei ein Sportprogramm wichtiger als eine Low-Carb-Ernährung. Patienten des Clusters 3 (etwa 15 Prozent) hätten dagegen eine angeborene, schwere Insulinresistenz. Diese seien in der Kindheit meist schon adipös gewesen und hätten eine Familienanamnese für T2D. Sie sollten sich aufgrund des Insulinüberschusses streng an eine kohlenhydratreduzierte Kost mit weniger als 50 g Kohlenhydrate pro Tag halten, riet der Mediziner.

Dies gelte auch für Personen des Clusters 4, des »angegessenen« Typ-2-Diabetes, die etwa 20 Prozent der Typ-2-Diabetiker ausmachten, so Scholl. Die Patienten seien moderat bis schwer insulinresistent bei Adipositas, Fehlernährung und Bewegungsmangel. Personen dieser Gruppe hätten es leichter als Personen der Cluster 2 und 3, um den Diabetes in Remission zu bringen. Die beste Chance hierfür hätten aber Personen des Clusters 5, die 35 bis 40 Prozent der Typ-2-Diabetiker ausmachten, sagte der Mediziner. »Dies sind die Älteren, ab 70 Jahren, mit Sarkopenie als zugrunde liegender Störung.« Für diese reiche es schon, 60 Minuten täglich flott spazieren zu gehen. »Das bringt enorm viel für die muskuläre Glucoseaufnahme.« Zudem sollte auch bei ihnen der Kohlenhydratanteil der Nahrung reduziert werden, am besten unter 130 g pro Tag. Zusätzliches Kraft- und Ausdauertraining sei auch hilfreich.

Scholls Fazit: »Nicht alle Menschen mit neu manifestiertem Typ-2-Diabetes werden ihren Lebensstil ändern wollen. Aber diejenigen, die ihren Diabetes wieder loswerden wollen, haben ein Recht zu erfahren, wie es gehen könnte.«

Der Beitrag von Bewegung zur Diabetesremission

Auf die Bedeutung von Sport ging Dr. Peter Kurz, Internist bei Prevention First in München, genauer ein. Bewegung helfe bei der muskulären Aufnahme von Glucose aus dem Blut. Denn durch die Kontraktion der Muskeln werde die Zahl der Glucosetransporter GLUT4 an der Zellmembran erhöht, die den Zucker aktiv in die Muskeln transportieren. »Dabei holen sich Muskeln die Glucose unabhängig von der Insulinwirkung«, berichtete Kurz. Das sei schon seit den 1990er-Jahren bekannt. Mit der Steigerung der GLUT4-Zahl allein lasse sich die durch Sport erhöhte Glucoseaufnahme aber nicht erklären. Einer Hypothese zufolge spiele die Temperaturerhöhung des Muskels hier eine große Rolle, die die Glucoseaufnahme vervielfachen könne, so Kurz. »Man geht hier vom bis zum 100-Fachen durch körperliche Aktivität aus.«

Doch welcher Sport und wie viel Bewegung sollte es für Typ-2-Diabetiker sein? Laut Kurz zeigt eine italienische Studie, dass täglich 55 bis 65 Minuten Spazierengehen schon deutliche positive Effekte auf Gewicht, HbA1c-Wert und das Herz-Kreislauf-Risiko haben können (»Diabetes Care« 2005).  Die Frage, ob man besser Kraft- oder Ausdauertraining machen sollte, stelle sich für Diabetiker nicht, sagte Kurz. Am effektivsten sei die Kombination aus beidem. Die Europäische Gesellschaft für Kardiologie (ESC) empfiehlt Diabetikern, mindestens dreimal wöchentlich Krafttraining und an fünf bis sieben Tagen pro Woche anspruchsvolles Ausdauertraining für 30 Minuten zu machen. 

Aber auch beim Sport unterschieden sich die Empfehlungen nach Clustern, sagte Kurz. So profitierten Personen des Clusters 2 mit angeborener Störung der Insulinausschüttung von der insulinunabhängigen Erhöhung der Glucoseaufnahme in den Muskel durch Sport besonders stark. Sie sollten täglich eine Stunde Ausdauertraining und einmal wöchentlich eine Stunde Krafttraining absolvieren. Personen des Clusters 3 mit angeborener Insulinresistenz profitierten weniger stark und sollten drei- bis viermal wöchentlich mindestens 30 Minuten Ausdauer- und drei Stunden pro Woche Krafttraining absolvieren. Das Krafttraining sei wichtig, um beim Abnehmen (durch die Ernährungsumstellung) nicht an Muskelmasse zu verlieren. Für Diabetiker aus Cluster 4 werde Ausdauertraining (drei Stunden pro Woche) und Krafttraining (zwei Stunden pro Woche) empfohlen, so Kurz. Personen des Clusters 5 mit einem »Altersdiabetes« profitierten schon von täglich einer Stunde zügigem Gehen. Zusätzlich sollte ein Krafttraining pro Woche auf dem Programm stehen, um dem Muskelabbau entgegen zu wirken.

Um auf das empfohlene Pensum zu kommen, könne es auch sinnvoll sein, technische Unterstützung im Sinne von Apps, Fitnesstrackern oder Videospielen zu suchen, riet der Mediziner.

Mahlzeitenersatz und Low-Carb für Diabetiker

Auf die Ernährungstherapie bei Typ-2-Diabetikern ging Ökotrophologe Dr. Nicolai Worm aus München näher ein. Hier stünden drei Ziele im Fokus: die Gewichtsreduktion, die Blutzuckerkontrolle und die Remission der Erkrankung. Um Gewicht zu verlieren, seien Formuladiäten das beste Mittel. So empfiehlt die European Association of the Study of Diabetes (EASD) in ihren im April 2023 publizierten Ernährungsempfehlungen für Diabetiker, ein Mahlzeitenersatzkonzept (dreimal ein Shake mit insgesamt maximal 840 Kilokalorien am Tag) als beste Strategie für die Gewichtsreduktionsphase. Die Datenlage hierfür sei inzwischen sehr gut, dennoch gelten Formuladiäten immer noch als verpönt, berichtete Worm.

Aber inzwischen rate auch die DDG in ihren Ernährungsempfehlungen von 2021 zu Formuladiät zur Gewichtsabnahme.

Wie soll es denn nach der Gewichtsreduktion mit der Ernährung weitergehen? Zur Blutzuckerkontrolle sei eine kohlenhydratreduzierte Ernährungsweise effektiver als andere Diäten, berichtete der Ökotrophologe. Zwischen dem Anteil der Kohlenhydrate in der Ernährung und dem HbA1c-Wert gebe es eine lineare Beziehung, wie eine aktuelle Metaanalyse zeige (»American Journal of Clinical Nutrition« 2022) . »Je niedriger der Kohlenhydratanteil, desto niedriger der HbA1c«, so Worm. Der Effekt sei dabei unabhängig von der Gewichtsreduktion. Die häufig geäußerte Kritik an Low-Carb, dass der LDL-Cholesterolwert ansteige, konnte in der Analyse nicht bestätigt werden.

Auch eine Remission des Diabetes ist über die richtige Ernährung möglich. In Studien habe man durch einen Einstieg mit Formuladiäten und anschließendem Wechsel auf kalorienreduzierte Kost bei konsequenter Ernährungsberatung gute Erfolge beim Zurückdrängen der Erkrankung erzielt. Zur Ernährungstherapie nach Diabetes-Subgruppen gebe es noch keine Daten. Seiner Ansicht nach würden die Cluster 3 und 4 besonders stark von einer Gewichtsreduktion mit Formuladiät und anschließender Very-Low-Carb-Ernährung profitieren, während Personen des Clusters 5 nicht an Gewicht verlieren sollten und über eine proteinreiche Low-Carb-Diät die besten Chancen auf eine Remission hätten.

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